Das Heulen ohne Wölfe


Kurze Spekulation über den Realismus in Rainer Werner Fassbinders Filmen in drei Akten

von Volker Koehnen

 September 2016

Das Heulen ohne Wölfe

Kurze Spekulation über den Realismus in Rainer Werner Fassbinders Filmen in drei Akten

 

von Volker Koehnen

 

I. Wer sich einen Film von Rainer Werner Fassbinder ansieht, kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier Kunst präsentiert wird. Dies in einem spezifischen Sinne, nämlich als Künstlichkeit: die Szenerie und Ausstattung wirken seltsam drapiert, die durch sie wandelnden Figuren merkwürdig roboterhaft, aufgezogen – wie Puppen aus Augsburg oder die berühmten Batterie-Hasen. Ihre Dialoge entfalten sich präzise in der Sprache, fast überdeutlich und theaterhaft in der Prononziation; hier wird keine Silbe eines Wortes verschluckt, als würde auch hier ein innerer Plattenspieler den Ton vorgeben, der sich selbst jeglichen Hänger untersagt. Fast ist es so, als würde Fassbinder in jedem seiner Filme Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ verfilmen, gleichsam als Film im Film: das Zelebrieren des Verlusts an Erhabenheit, Aurahaften, Einzigartigen, Unverwechselbaren, ja Individuellen, welche dem bildungsbürgerlichen Kunstwerk als zugeschriebene wesentliche Eigenschaft anhaftet(e) und zugleich ein Einsatz im Spiel um eine neue kollektive Ästhetik des Gesellschaftskritischen als Kunst, die gleichbedeutend mit der filmischen Entwicklung eines kritischen Begriffs der Realität, in der wir leben, wäre.

II. Dass dieses Spiel, das ja für manche im Feld der Kunst Teil des übergreifenden politischen Kampfes um eine andere Realität darstellt, verloren gegangen zu sein scheint, führt uns der tagtägliche Irrsinn des Mainstreamfilms und –fernsehens vor Augen. Auch hier wird zwar verzweifelt versucht, „Realität“ abzubilden. Der ihr zugrundeliegende Begriff ist aber in diesen Produktionen begrifflos, nämlich körperlich. Wo Fassbinder ganz auf geschliffen-künstliche Dialoge setzt, die die Figuren in den Hintergrund drängen, dürfen hier Schauspieler*innen gar keine mehr sein, sie müssen in ihrer Rolle aufgehen und dabei authentisch sein. Das geht aufkosten der Sprache, die möglichst „lebensnah“ und umgangssprachlich brabbelnd, verschluckend, leer sein soll; eben „locker“ und „ungezwungen“. In dieser Logik wird die Handlung, die Eventhaftigkeit der Geschehnisse zum Fokuspunkt eines Films. Übertroffen wird dies nur noch von „reality-shows“ wie Big Brother, wo der Unterschied lediglich der ist, dass es dort kein Drehbuch gibt. Selbst der altehrwürde ARD-Tatort setzt inzwischen auf diese zweifelhafte „Realität“ und Ästhetik: gerade eben wurde erstmals eine Folge abgedreht, in der es kein Drehbuch gab und die folglich von der Spontaneität der Schauspieler*innen zu zehren hatte.

Nun, diese Form der Kulturkritik und des Mainstreambashings soll hier nicht weitergeführt werden; das Unbehagen daran wurde bereits oftmals ausgeführt. Auf was es hier ankommt, ist die Differenz in den Realitätsbegriffen im ästhetischen Ausdruck, die jeweils auf unterschiedliche Weise auf unsere konkret gegebene Gesellschaftlichkeit und ihres hegemonialen Bewußtseins verweist: soll Kunst „Realität“ abbilden und kann sie dies – etwa im „1 : 1“-Format - überhaupt? Oder ist Kunst in dem Maße „von dieser Welt“, wie sie sich gegen sie auflehnt? Welches Verhältnis also, das wäre die präzisere Frage, reproduziert Kunst zwischen sich und der Realität? Während mainstreamige Kunst, wie gezeigt und bekannt, halluziniert, „die einzige echte“ Realität durch Drauf- und Reinhalten der Kamera ins Gewese und den Körper des Alltags abbilden zu können, geht kritische Kunst einen anderen Weg: ist es nicht viel „realistischer“, angemessener und objektiver, wenn Puppen durchs Leben wandeln, deren Bewegungsfäden am Symbolischen, an Sprache, an künstlicher Rolle hängen, als wenn vermeintliche Kumpeltypen von nebenan ihre körperliche, nicht-sprachliche Präsenz feiern? Man sollte hier aber nicht in die Falle tappen, diese Fassbindersche Kunst nun ihrerseits zur 1:1-Abbildung der Realität, aber eben der „echten“ und „richtigen“, misszuverstehen. Die Realität oder „große Andere“ (Lacan) existiert nicht – deswegen ist sie weder darstellbar noch filmbar; einzig filmbar wäre hier nur das (real) nichtexistente, dessen Existenz aber in Form einer (künstlerischen) Reproduktion seiner Logik bestünde. Dadurch erlangt der Film eine Form von Realität, die gerade in ihrer Fiktion realer ist als die nicht-filmische Realität, die wir für „real“ halten; hier treten symbolische Rollen miteinander in Kontakt oder Konflikt, die gerade deswegen harmonisch oder konfliktreich interagieren, weil sie künstlich sind. Und dies wäre dann die einzige Parallelität filmischer und nichtfilmischer Realitäten, die aber nicht abbildbar sondern nur reproduzierbar ist. Weil Realität „an sich“ nicht ist, kann sie sich immer nur jeweilig im lebendigen gesellschaftlichen Lebensprozess (re)produzieren; der Unterschied zwischen Film und Realität liegt daher nicht in einer gewissen Form von Fiktionalität, wohl aber  im Grad der Wahrheit der Aussagen über die gesellschaftlichen Zustände, die der Vermittlung des Subjekts mit dem Objekt, des Denkens und Seins, des Begriffs und des Gegenstands, des Forms und des Inhalts die Treue hält.

Denn ein weiteres Mißverständnis ist das der postmodernen Virtualitätspsychose, die nichts Materialistisches und Objektives anerkennt. Insofern gibt es natürlich doch eine objektive Realität, aber eben nicht „an sich“, sondern als geschichtliches, je spezifisch produziertes und materialisiertes Gebilde. Und wahr wäre ein Realitätsbegriff, der den Entfremdungs-, Ausbeutungs- und Leidenszusammenhang spätkapitalistisch-bürgerlicher Gesellschaften ins Bewußtsein höbe. Für diese Gesellschaft stehen dann als zwei verschiedene Weisen der Kunst bzw. Künstlichkeit Fassbinder-Filme auf der einen und Mainstreamproduktionen auf der anderen Seite; die einen wahr, weil abstrakt-konkret vermittelt, die anderen unwahr, weil unvermittelt und deswegen zu abstrakt – der Obsthändler aus Fassbinders „Händler der vier Jahreszeiten“ hat so unendlich mehr Anteil an der Realität in seiner Künstlichkeit als eine Containerhausbewohnerin bei Big Brother oder Matthias Schweighöfer in „What a man“ in ihrer vermeintlichen Authentizität. Dieser Begriff des Realismus, den Fassbinder in seinen Filmen entfaltet, wäre heute wieder angesagt: als Gradmesser für gesellschaftliche Objektivität; nicht ein Realismusbegriff, dessen Kriterium die (körperliche) Authenzität ist. Letzterer zehrt vom Gebaren einer Registrierungsmaschinerie, die lediglich (auf)zählt, indem sie zeigt und die sich versteigt, dem so Registrierten irgendeine sinnvolle Aussagekraft zuzumessen; dies alles natürlich eingebettet in einen perversen und uneingestandenen Genießenszusammenhang (Wie hatte noch Michel Foucault seinerzeit einen ähnlich vorgehenden Marquis de Sade charakterisiert? Als „Sergeant des Sex“ und „Rechnungsbeamter der Ärsche“). Dieser Abbildungsrealismus – indem er die Masse der Daten, also gezeigte Körper, Events, Handlungen und Ausstattungen mit einem gehaltvollen objektiven Gesellschaftsbegriff verwechselt - ahmt den Hype empiristischer Wissenschaft und positivistischer Gesellschaftstheorie nach – und ist letztendlich Ausdruck tiefer Entfremdung. Hierin gelangt dann schlußendlich dieser Begriff von Realität doch noch zu einem Quentchen Wahrheit, wenn auch gänzlich unbewußt oder nichtgewußt, in ihrer Negativität: Fassbinders Filme setzen sich als reproduziertes Unbewußtes gleichsam als das Andere von Dieter Bohlen; in ihrer Negativität konfrontieren sie reality-shows mit ihrem verschwiegenen Obszönen.

III. Der Film verhält sich zur Realität wie die Theorie zur Praxis. Genauer: beide Paare oder vier Komponenten gehören ein- und derselben Totalität an. Beide Paare sind im Widerspruch, in ihrer Gegensätzlichkeit miteinander vereint und erhalten sich wechselseitig darin, jeweils das andere zu sein (zu werden), indem es von ihm getrennt ist. Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein widersprüchliches Selbstverhältnis der Ausdrucksform (Film und Realität) oder der Handlungsform (Theorie und Praxis) in ihren beiden (voneinander) unterschiedenen Momenten. Bei Debatten über Theorie und Praxis entsteht oft eine Verwechslung beider oder eine Verwirrung, weil nicht expliziert wird, was beide sind (nämlich unterschiedliche Handlungsformen), aber vor allem worauf sie sich jeweils beziehen: nämlich auf Wirklichkeit. Daher kann hier auch eine andere „Komposition“ der vier Elemente erfolgen, Bezugspunkt dabei: das sich je unterschiedliche Beziehen auf (gesellschaftliche) Realität; also die Kombination von Theorie und Realität bzw. Film und Praxis.  Ich kann mich praktisch handelnd auf Realität entweder theoretisch beziehen, indem ich über sie logische, miteinander verknüpfte, eben wissenschaftliche Aussagen treffe; oder aber ich setze mich praktisch handelnd mit ihr als filmische Kunst in ein Verhältnis, indem ich über die Fiktion bestimmte gesellschaftliche Sujets mit kreativen Stilmitteln verarbeite. In beiden Fällen habe ich dabei die Wahl, welche Form von Bezug ich konkret wähle: entweder ich reproduziere Realität, indem ich ihre geschichtlich gewordenen und gesellschaftlich konkreten Klassen- oder Konfliktlagen aufgreife, oder ich glaube, sie einfach positivistisch abbilden zu können. Beides sind Praxisformen, im ersten Fall kritische Praxis sich selbstbewußter und also freier Subjekte, im zweiten praktische Affirmation des schlechten Gegebenen durch entfremdete Individuen. Man könnte auch sagen, traditionelle oder kritische Theorie findet ihre Entsprechung im traditionellen oder kritischen Film. Um es grobschlächtig zu formulieren: Wer affirmativ-positivistisch handelt, wird wohl entweder Heimatkitschfilme, „Kokowääh 2“ oder „Ghostbusters“ (Hervorhebung der Identität) oder abgedrehte, sinnbefreite psychotisch-hysterische Experimentalfilme mit viel Sex und Splatter (Hypostasierung der Nicht-Identität) drehen. Wer sich kritisch wähnt, drehte wohl eher Fassbinderfilme. Denn er oder sie hätte verstanden, dass es einer prinzipiellen und bewußten Entscheidung bedarf, wenn man leben, einen Film drehen, arbeiten gehen oder lieben will: die existentialistische Entscheidung, ob ich mit der Welt, in der ich lebe, einverstanden bin oder nicht. Bin ich es nicht, bin ich es höchstwahrscheinlich dadurch nicht, dass ich eine explizite Axiomatik gesetzt habe, die sich um die Begriffe von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gruppiert. Ausnahmslos jedes Subjekt entscheidet sich – die Frage ist nur, wofür und vor allem wie bewußt.

Und der Entscheid für eine Umgestaltung der Welt zieht notwendig nach sich, einen Begriff von Theorie, von Praxis, von Kunst, von Realität usw. zu entwickeln, die Fähigkeit zur Reflexion und Spekulation, sowie den Willen zur orientierenden, organisierenden Totalität. Wenn sich dieser Begriff dann noch dialektisch aufspannt und als Puppe mit präziser Sprache die Szenerie der Existenz durchschreitet, dann kann er ebenso als „existierender Begriff“ (Hegel) gefaßt werden wie die Figuren in Fassbinders Filmen „existierende Begriffe“ sind. Auf diese Weise können wir unsere Existenz nur als Ausdruck von Solidarität verstehen, genauso wie die Filme Fassbinders bei aller – oder wegen der - Exzentrik, allen Diskontinuitäten, aller Gewalt oder Ausbrüchen eine tiefe Solidarität atmen; diese aber nicht als abstrakter Wert, sondern als Resultat, das sich aus den objektiven gesellschaftlichen Antagonismen ergibt, die sich in der Darstellung der Zerrissenheit der Figuren in Fassbinders Filmen verdoppelnd reproduziert.