Von Gesetz und Sünde in der fundamentalistischen Ideologie

 

Der notorische Vorwurf fundamentalistischer, rechter und religiöser Kreise gegenüber den "Empfindlichkeiten" säkularer, liberaler Kräfte, wenn es um die Kritik an Israel oder auch Judenwitze geht, zielt auf den wahren Kern eines eben auch westlichen Problems, nämlich eines Mangels an Selbstbewusstseins desjenigen der sich über solche Kritik, Späße oder Zumutungen echauffiert. Der liberale, aufgeklärte Westen (oder die das liberale westliche Wertesystem repräsentierenden politischen und kulturellen Eliten) drückt in seinen Vorbehalten gegenüber "Judenwitzen" und/oder der Kritik an Israel nichts weniger als seine eigene Unsicherheit gegenüber dem Zustand des freiheitlichen, "anti-faschistischen" Charakters seines Gesellschaftssystem aus. Ein Verbot gegen Naziauftritte, antisemitische Propaganda, etc. sublimiert lediglich die Unsicherheit gegenüber der Frage, ob eine Wiederkehr des Holocaust, wenn auch nicht so, aber doch in anderem Gewande, möglich ist. Die Auftrittsverbote, "vorsorglichen Absicherungen" und Empörungsbezeugungen gegen rassistische und anti-semitische Hetze verweist gerade darauf, dass die Gefahr einer Wiederkehr des Faschismus oder des deutschen Nazismus, sicherlich zu Recht, vom Gesetzgeber und der ihn stützenden, politischen und kulturellen Gruppen, unterbewusst als durchaus real eingeschätzt wird.

 

Diese spezielle Verbotskultur des Westens wird zum Beispiel vom religiösen Fundamentalismus (aller Couleur) wiederum zu Recht als Ungerechtigkeit erfahren, wenn umgekehrt von der gleichen Kultur mehr Toleranz gefordert wird. Letzten Endes muss zugegeben werden, und wird gerade dadurch deutlich, dass gegenüber der berühmten Gretchen-Frage des modernen Selbstverständnisses, "ob es so etwas (modernes) wie den Nationalsozialismus noch einmal geben könne", das emanzipierte, demokratische Selbstbewusstsein, aus guten Gründen, genauso unterentwickelt ist, wie das des religiösen und politischen Fundamentalismus der Verbote und Gebote[1]. Trotzdem bleibt die Entrüstung des beleidigten Religiösen ob der "Ungerechtigkeiten und Anmaßungen der säkularen Welt" eine vorgeschobene, die seine berechtigte Angst vor einer menschlichen und politischen überlegenheit des Säkularen und des Atheisten kaschiert. In beiden Fällen drückt sich die Angst in Verboten und Geboten aus. In beiden Fällen geht es bei diesen Verboten um eine Selbstversicherung und Verortung des in Frage gestellten Wertesystem.

 

Die Schwäche des politischen Dogmatismus (nicht nur des religiösen) ist es jedoch, dass ihm Verbot und Gebot innerlich sind. Die Stärke des Atheismus und der Liberalisierung (nicht zu verwechseln mit der ökonomischen Analyse als Ideologie die manche Neoliberalismus nennen) ist es demgegenüber, dass ihnen Verbote und Gebote äußerlich sind, Gegenstände einer immerzu (!) verhandelbaren Masse gesellschaftlicher übereinkünfte. Aus dieser äußerlichkeit erwächst zumindest die Möglichkeit zu einer immer virulenten, langsamen oder spontanen, Entfernung vom Gesetz, oder der beständigen Schaffung einer Lücke zwischen dem Gesetz und der "Ordnung der Dinge", die der Kern der Freiheit aber auch des Menschseins "an-sich" bildet. Dies gilt auch wenn wir gegenwärtig genau den umgekehrten Trend in den sich säkular nennenden, politischen Systemen feststellen müssen. Heute geht der Trend eindeutig hin zu einem Mehr an moralischen und politischen Sanktionen und staatlicher Kontrolle und weg von der klassischen Rolle des Gesetzes im säkularen Staat: der kontinuierlichen Aushandlung der materiellen und ideellen Transferleistungen durch Umverteilung. Dieses Mehr an Kontrolle und Weniger an Ausgleich ist vor allem durch eine kollektive Indoktrination mit (Zukunfts-)Angst gespeist und nicht selten durch die damit verbundene Restauration religiöser Glaubensprinzipien in der Politik vermittelt. Letztere steht also immer mehr im Gegensatz zum säkularen Prinzip des gesellschaftlichen Aushandelns, das im archäo-typischen Fall nur im angstfreien Raum (Gewaltmonopol des demokratischen Staates, ausreichend materielle Grundlagen, Ausgebildete Sozialsysteme, etc.) existieren kann. Im politischen und religiösen Fundamentalismus zerstört der Strudel von Gesetz und seinem übertritt, der Sünde, die wiederum das nächste Gesetz in ihrem Gepäck mit sich führt, die souveräne Haltung des Menschlichen, die befreit von der Last der Sünde leben will. Diese verlorene menschliche Souveränität über das Gesetz führt zu jenem beobachtbaren Minderwertigkeitskomplex religiöser und rechts konservativer oder faschistischer Gesellschaften und Gruppen, gegenüber offeneren und freieren, der eine wichtige Komponente des Hasses und der Gewalt darstellt[2]. Je göttlicher und absoluter das Gesetz, desto kleiner die von ihm beherrschte, menschliche Souveränität, desto unterentwickelter das Selbstbewusstsein und desto gewalttätiger der Frustrationsstau.

 

Wer ständig mit dem Gesetz konfrontiert ist lebt eben auch ständig mit der Sünde die er fürchtet. Die Sünde ist ihm jederzeit extrem nahe. Eine Gesellschaft die ein Stückchen aufgedeckter weiblicher Haut sofort mit sexuellen, unkontrollierten und ungehörigen Gefühlen verbindet, weist beständig darauf hin, dass sie eine sexuell aufgeladene, sexuell extrem übersteuerte Gesellschaft ist, die ständig Angst davor hat, dass der Hormonstau außer Kontrolle geraden könnte[3]. Genau deswegen ist die sogenannte westliche, freizügige Gesellschaft eben gerade nicht voll von Sex sondern im Gegenteil extrem entsexualisiert, wo nur noch die härtesten und direktesten zur Schaustellungen des menschlichen Körpers überhaupt noch Wirkung zeigen.

 

Die Verbindung zwischen Gesetz und Sünde und ihre enorme Fetischisierung bildet die Grunderzählung des kollektiven dogmatischen Unterbewusstsein. Diese Erzählung und die sich aus ihr ergebenden politischen Konsequenzen zu kritisieren war dann auch das eigentliche Projekt des politischen Aktivisten Jesus von Nazareth, jedenfalls wenn man seinem Cheftheoretiker, dem Apostel Paulus, glauben schenken möchte. Paulus hat die fatalen politischen Konsequenzen, die sich aus dem Antagonismus von Gesetz und Sünde ergeben, erkannt und das Leben und Wirken Jesu’ (oder die Erzählungen darüber) als Strategie begriffen, wie diesem Teufelskreis, mit Hilfe des Diktums der bedingungslosen Liebe, zu entkommen wäre. Paulus bezieht sich in der Entscheidenden Stelle des Römer Briefs zunächst explizit auf die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei: was war also zuerst,? Das Gesetz oder die Sünde? Nur um diese dann sofort als nicht statthaft zurückzuweisen, da das stellen diese Frage die fatale Dialektik des Komplexes erst in Gang stezt: ¨Das Gesetz ist nicht (ursprünglich) Sünde.¨ ¨Dies sei uns fern!¨ ruft Paulus aus. Vielmehr müssen wir feststellen, dass immer da wo die Sünde lauert das Gesetz schon da war und umgekehrt, die Sünde, also die übertretung des Gesetzes, diesem immer wieder sein Existenzrecht überhaupt erst verleiht. Der Polizist ist eben da weil die Erfahrung gezeigt hat, dass jemand einen Stein nach ihm schmeißt (schmeißen möchte) und die Tatsache, dass dem so ist, gibt ihm, dem Polizisten, überhaupt erst ein Existenzrecht. Umgekehrt wurde der Stein natürlich nur geschmissen, weil der Polizist dann auch tatsächlich da war.

 

Die Sünde vieler emanzipativer Bewegungen ist es ständig dort das Verbot oder einen Gesetzesübertritt als Strategie ins Spiel zu bringen, wo sie sich eigentlich um die Freiheit sorgen. In linken Forderungen für Auftritts-, Podiums-, sowie Artikulationsverbote der Freiheitsverächter (also zum Beispiel der Rechten und Religiösen) tritt eben durch die Hintertür das Gesetz in Form des Verbots selber ins Haus und vollzieht sein gnadenloses Werk der Souveränitätsverletzung, in dem es die Sünde, also die Frage ob man diesen Verboten selber gerecht werden kann, im Schlepptau mit sich zieht. Der durch die Möglichkeit der erneuten, alternativen Sünde verunsicherte Mensch, kennt von da an die Angst, die sofort ein neues Gebot in Gang setzt, auf seinem unausweichlichen Weg in die totalitäre Gesellschaft.

 

Ein entgültiger Ausweg aus diesem Dilemma von Gesetz und seinem übertritt kann nur die gänzliche Ignoranz gegenüber Beiden sein, dem Gesetz UND der Sünde. Aber einen entgültigen Ausweg wird und kann es wohl nicht geben, da er selbst eine reine abstrakte Gesetzmäßigkeit, eine Vorstellung vom Gesetz darstellen würde. Paulus schlägt, wie schon erwähnt, als eine Möglichkeit des Unempfindlichwerdens gegenüber Gesetz und Sünde, Jesu Lebensleitfaden der unbedingten Liebe vor. Und verkehren nicht Verliebte tatsächlich (jedenfalls für einen kurzen Zeitraum) in einem Raum in dem viel Gesetzesmäßiges sich auflöst, und in dem vieles toleriert wird was gemeinhin als Sünde gilt? Man kann leider nicht sagen, dass dieser Ansatz bisher, trotz Hippies und Emo-bewegungen überzeugend funktioniert habe. Die Kirchen als politische Machtapparate haben ihn selbst als erste fallen lassen.

 

Die Antwort auf die Herrschaft von Gesetz und Sünde, wie sie heute in der modernen Wissensgesellschaft als Herrschaft der Experten und des Kapitals zutage tritt, sollte also nicht die spirituelle Endlösung sein, wie sie oftmals als Reaktion auf die Oligarchenherrschaft auch von Linken ins Feld geführt wurde und immer noch wird. Sondern es muss, wie zum Beispiel Jaques Ranciere[4] und Ernesto Laclau[5] übereinstimmend anführen, um den permanenten Kampf, um die permanente öffnung und das Offenhalten (in der Schwebe halten) politischer Räume, Begriffe und Vorstellungen gehen. Nur so ist die totalitäre Katastrophe als Endpunkt der Logik von Gesetz und Sünde zu verhindern. Die Verhältnisse am tanzen halten.

 

 

 

 

 

 



[1] Im übrigen wird hier auch deutlich, dass der notorische Angriff der revisionistischen Kräfte "man solle doch endlich wieder zu einem selbstbewussten Nationalgefühl zurückkehren und die Vergangenheit ruhen lassen" die Angst ihrer politischen Gegner nur verstärkt, weil dieses Zurückkehren ja genau der Kern der Angst ist und die Leute die diese Sprüche von sich geben eben die potentiellen Protagonisten einer zukünftigen faschistischen Verführung sein könnten..

[2] Natürlich machen die materiellen Grundlagen für die Masse der Bevölkerung den entscheidenden Unterschied. Allerdings kann ihr Verhältnis zu den materiellen Ungerechtigkeit stark vom Frust ihrer Eliten abhängig sein, je nachdem wie effektiv der ideologisch oder religiöse überbau in der Lage ist beides miteinander zu vereinen, d.h. die materielle mit der ideellen Misere zu vereinen.

[3] Vrgl. z.B.: S. Zizek, Die Frau und der Orient. Was hinter dem Schleier steckt
 ein Blick in die Archive des Islam, Lettre International, 74, 2006.

[4] J. Ranciere, Hatred of Democracy, Verso, 2006.

[5] E. Laclau, On populist reason, Verso, 2005.