„Nacht-Tanz-Demo“.

 

Von Volker Koehnen

 

Nacht – wir beginnen in der Nacht, zu sein. In solcher Nacht, die noch nicht vorgefaßt, definiert, strukturiert, selektiert, be-deutet, gewiß, sicher oder benennbar ist; ganz die „Nacht der Welt“ nach Hegel. In der Nacht, die ein schier unendlicher Raum des Möglichen und Erfindbaren ist, in einer Nacht, die nicht durch das Gegenteil-Sein anfängt zu sein (als etwa das Gegenteil vom Tage), sondern die per se, für sich und an sich ist. Hier lässt sichs leben. Und kritisieren. Und: träumen. Aber diese Nacht gebiert andere Träume als die dumpfe, schlafende unbewußte Nacht, die wir sonst kennen. Es sind hellwache, klare, lustvolle Traumbilder, die in unserer Nacht, in der Nacht der Nächte aufsteigen – so hell, dass sie uns das Ausleuchten des noch nicht geschöpften, ursprünglich dunklen Raumes ermöglichen und uns möglicherweise Wege zeigen, die noch nicht beschritten wurden. Auf diese Weise versuchen wir uns nicht in kleinbürgerlicher Manier, indem wir die Nacht zum Tage machen – im gegenteil: wir machen den Tag zur Nacht. Will heißen: wir reißen die Schärfe der Konturen, der Profile, all die Merkmale der Unterscheidbarkeiten und Differenzierungen des Tages ein und verlieren uns im „dunklen Gewusel“ des zunächst Nicht-Erkennbaren, des Unterschiedslosen, des Unscharfen. Um, so die Hoffnung, neues zu entdecken, was der Scharfmachung und Konturierung lohnt.

 

Tanzen – wir bewegen uns in dieser Nacht, wir schlafen nicht; keine einem Ziel dienende, maschinelle Bewegungen, wie sie uns sonst auferlegt werden. Sondern: rhytmisches, klatschendes, hüftschwingendes, lautes Bewegen, das Ansatz- und Ausgangspunkt dafür sein kann, um uns herum anzustecken und in Schwingung zu bringen. Selten hebt der stille, reflektierende Poet im Kämmerlein die Welt aus den Angeln; noch seltener stülpen aggressive Gewaltorgien die Zusammenhänge um. Eher noch sind es die Tänzer, die nach fremden, ungewohnten Melodien ihre Körper bewegen, um auf diese Weise die „steinernen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“ (Marx). Dabei ist es der Spaß, die Lust an der Bewegung, die den Ausschlag gibt. Das starre Einhalten von Bewegungsabläufen verpufft – das kreative, anarchische Bewegen nach unbekannten Melodien erschafft. Dabei sind wir immer Tänzer, sofern wir uns nach vorgegebenen Musiken bewegen. Nacht-Tänzer hingegen akzeptieren nichts abgedroschenes; sie erfinden sich beim Tanzen neu.

 

Demo – ja, es ist eine Demonstration. Sie ist aber kein Ritus, sie gehorcht keiner speziellen Dramaturgie; sie ist kein nebeneinander Einherschreiten mit finsteren, entschlossenen Mienen; sie ist kein Wehklagen, kein Schreien, sie ist nicht verbissen in ein längst gelutschtes Brot. Die nächtlich-tanzende Demo ist leicht, kinder-leicht und fühlt sich gut an, sie hebt die Stimmung. Die Demo demonstriert, sie zeigt: auf aufzubrechende Starrheiten – aber sozusagen als Nebengeleis, als Effekt; nicht als Zweck an sich. Und sie zeigt uns, dass wir noch leben.

 

So ergibt sich, dass die Nacht-Tanz-Demo Kritik in ihrer reinsten Form ist. Sie nimmt zunächst keinen unerschütterlichen moralischen Standpunkt ein, sondern begibt sich bewusst in die Nacht – alles auf Anfang. Sie dreht tanzend Runden neu, die sonst ausgespart werden, weil man ja sich im Besitz der Wahrheit glaubt. Sie lässt vieles offen – nicht zuletzt die Lücke, die unsere Existenz bestimmt, zwischen dem nämlich, „dass etwas ist“ und dem „aber was?“. Und sie demonstriert sich und den Verhältnissen, dass sie lustvoll ist und Spaß macht – aus einem verzagten Arsch kriecht selten ein fröhlicher Furz. Die Kritik hat kein graues Gesicht; sie gleicht eher einer leuchtenden Sonne, die über einer Blumenwiese steht.