Wie die
Linke im Kampf um die Begriffe Wirklichkeiten schafft
Einleitung
Es ist seit
einigen Jahren in gesellschaftlichen Gruppierungen, politischen Parteien und
sozialen Bewegungen, die sich als "links" verstehen, beobachtbar, dass sie ihr
politisches Terrain, ihr Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung,
entlang des Begriffs des "Neoliberalismus" und der "Globalisierung" abstecken
und um diese herum definieren. Keine linken "Zukunftskongresse", keine
Leitartikel, keine Podiumsdiskussion, in der nicht die zentrale Frontstellung
und Gegnerschaft zum Neoliberalismus oder zur Globalisierung thematisiert wird.
Beide werden beschrieben als das neue Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen
am Anfang des dritten Jahrtausends versehen mit dem Hinweis auf eine neuartige
Entwicklungsstufe des Kapitalismus im Zuge der Internationalisierung der Märkte
bei gleichzeitiger Schwächung der gesellschaftlichen und staatlichen
Gegenkräfte - also der Steuerung oder der Regulation nach den Prinzipien der
sozialen Gerechtigkeit. Das diagnostische Bild, das von Staat, Gesellschaft und
ökonomie gezeichnet wird, ist ein fatalistisches Gebilde bestehend aus zwei
Entwicklungslinien: einerseits die Schilderung des "Triumphs des Marktes" in
grellen Farben und andererseits die "Niederlage (sozial-)staatlicher
Institutionen und linker Gegenkräfte" in dunklem schwarz. Und in der Tat:
zahlreiche sozioökonomische Daten, viele (wirtschafts-)politische Ereignisse
scheinen dem geschilderten düsteren Szenario recht zu geben: Massenentlassungen
bei explodierenden Unternehmensgewinnen, Verarmung breiter
Bevölkerungsschichten bei extremer Steigerung weniger, privater Vermögen,
finanziell kollabierende Sozialsysteme und wachsender Steuerungsverlust des
Staates. Gedeutet wird dies als ein Ergebnis der Arbeit mächtiger
Interessengruppen, vor allem der Unternehmern und ihrer Verbände, die es
bewerkstelligen konnten, in Politik und Gesellschaft eine Art
"Hegemonialbewußtsein" oder "herrschende Ideologie" festzusetzen, die
vornehmlich ihnen selber d.h. ihrer ungezügelten Kapitalakkumulation nutzt.
Auch hierfür spricht einiges: der Reichtum steigt, die Unternehmensgewinne
explodieren.
Als
politisches Gegenprogramm wird kämpferisch zum Sturm auf diese Ideologie die
Neoliberalismus oder wahlweise Globalisierung getauft wurde - geblasen, und
zwar auf mehreren Ebenen: im Medium des Wortes als aufklärerische Argumentation
und im Mittel der Aktion als demonstrative Geste des Widerstands auf der
Straße. Wort und Tat von jeher das klassischste und romantischste Programm
und Mittel des Widerstandes der Linken gegen übermächtige gesellschaftliche
Gegner im Kapitalismus.
Soweit, so
gut. Doch es mutet erstaunlich an, dass trotz massiver Gegenwehr, trotz
geführtem Kampf auf allen Ebenen, trotz großangelegten Versuchen der
Demaskierung der "Ideologie der Herrschenden", der so bezeichnete
"Neoliberalismus" vital wie eh und je erscheint. Mehr noch: er umso lebendiger
zu werden scheint, je mehr er bekämpft wird. Die ökonomischen und politischen
Zumutungen des sogenannten Neoliberalismus, haben ja in den vergangenen Jahren
eher zu- als abgenommen. Wie kommt das? Nun würde man dies im linken Lager sehr
wahrscheinlich mit dem ungleich verteilten gesellschaftlichem Machtstatus der
sich gegenüberstehenden Gruppierungen erklären: hier die einfach mächtigeren
Unternehmerverbände und ihre Agiteure, dort die einfach schwächere Linke. Aber
reicht dies als Erklärung aus? Was zeichnet einen sozialen Status aus, der als
"mächtiger" oder "schwächer" bezeichnet wird? Was lässt eine Idee und die aus
ihr abgeleitenden Gesetzlichkeiten - denn nichts anderes ist ja der
Neoliberalismus - "mächtig" sein? Wenn wir einmal von mystisch-göttlichen oder
nur sehr schlecht begründbaren naturgesetzlichen oder vulgärdarwinistischen
Erklärungen absehen: wie kann es kommen, dass eine gesellschaftlich gefertigte
Realität dermaßen "hart" und unveränderlich erscheint, inklusive ihrer
scheinbar so klar verteilten (Macht-)Rollen, die politische überzeugungen
scheinbar unabdingbar, scheinbar a priori in Sieger und Verlierer
aufteilen?[1]
Wie geschieht es, dass die Begriffe Neoliberalismus und Globalisierung in ihrer
ganzen Entfaltung als so empirisch festgelegth, so notwendig, so automatistisch
und deterministisch daher kommen, als ginge es tatsächlich um "Deutschland"
oder "Coca-Cola"? Warum gibt sich jemand fast zwanghaft mit der Rolle des
Unterlegenen des "ewig Beherrschten" zufrieden, wie es die Linke tut, vor allem
wenn sie auf die materialistischen unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten des
modernen Kapitalismus verweist, der eben so und nicht anders immer schon
funktioniere?
1. Die
Macht der Begriffe
a) "Wirklichkeit" und "Wahrheit"
Was ist
Realität? Wie kommen wir dazu, etwas als "gegeben", als "real" oder gar als
"wahr" zu bezeichnen? Diese ur-philosophische Frage muss hier am Anfang stehen,
weil sie sehr viel damit zu tun hat, wie etwas entsteht, mit dem Politik
umgehen muss. Auf die Frage nach der Wahrheit kann ich grundsätzlich auf zwei
Arten antworten: objektivistisch und subjektivistisch. Als Objektivist glaube
ich an eine von mir, dem erkennenden Subjekt, unabhängige Wirklichkeit, die
erstens immer schon gegeben ist, zweitens sich mir nicht unmittelbar offenbart
und drittens ich aber in der Lage bin, sie Stück für Stück via Wissenschaft
und ihrer Theorien und Methoden offen zu legen und zu "entziffern". Eng damit
verbunden sind Vorstellungen von einem Fortschritt, der im Erkennen der Welt
vonstatten geht je mehr ich entdecke, umso größer der Fortschritt und die
innere Logik der Welt. Diese Analyse der Welt als faktisch und gegeben kann
klar und eindeutig zwischen wahr und falsch unterscheiden Wahrheit wird zu
etwas, was der Welt von Natur aus innewohnt und ihr - entdeckend - abgerungen
werden kann. Wahrheit oder: "das, was ist" hat eine zeit- und raumlose,
eigene Essenz und Substanz. Vertreter dieser "Weltanschauung" sind die modernen
Wissenschaften, der Positivismus, der Rationalismus, der Naturalismus und der
Materialismus und sie steht historisch im Dienste dessen was als Klassizismus
und Aufklärung, oder auch als Materialismus bezeichnet wird. Als Subjektivist
hingegen bestreite ich vehement die Möglichkeit, etwas von mir grundsätzlich
unabhängiges erkennen zu können; im Gegenteil: für den Subjektivisten existiert
die Welt nur durch und mit ihm, da das menschliche Gehirn "nicht aus sich
heraus kann". Insofern "lese" ich nicht in der Welt als offenes Buch, sondern
ich erzeuge die Welt, "schreibe" sie. Mit dem Problem der Wahrheit verhält es
sich hier etwas komplizierter: Wahrheit "ist" nicht, sie kann daher auch nicht
gefunden werden. Wahrheit wird so zu einem Konstrukt, das- höchst fragil,
amorph und flüchtig in unterschiedlichen Sachverhalten, Diskussionen und
Thematiken, immer wieder neu hervorgebracht werden muss. Sie wird zu dem
Produkt eines Diskurses, von dem man nie sagen kann, wie seine Gestalt
letztendlich aussehen wird: "Sag mir Wahrheit, wer bist du heute und wer wirst
du morgen sein?". Letztlich wird Wahrheit für den Subjektivist zu einer zu
füllenden oder auch nicht zu füllenden Variablen, zu einem zutiefst
relationistischen und perspektivistischen Gut. Die subjektivistischen
Bewegungen stehen damit mehr in einer kantischen und hegelianischen Tradition,
und man ordnet sie historisch demnach auch eher den "romantischen",
ideologischen Bewegungen zu.
Man muss kein
belesener Philosoph sein, um schon hier das Gefühl zu hegen, dass an beiden
Ansätzen wohl etwas dran ist. Schon unsere alltäglichsten Erfahrungen sagen
uns, dass wir in einer Welt voller Begriffe und Bedeutungen leben, die aber
leider oftmals so gar nicht zu dem passen wollen was wir gegenüber einer Sache
oder eines Sachverhalts empfinden. Der "wahre Kern" des Objektivisten sperrt
sich hier gegen "die Durchsetzung eines Begriffs" des Subjektivisten. Wer
jemals in die Gelegenheit kam einem hochgeschätzten Menschen seine tief
empfundene Zuneigung oder auch seine Vorbehalte ausdrücken zu wollen, weiß
wovon hier die Rede ist. Am besten kann man diese menschliche Spaltung zwischen
"objektiv" empfundener Wahrheit und "subjektiv" artikulierter Bedeutung wohl in
einer Behauptung und einer Frage unterbringen:
"Es ist
etwas! Aber was?
Alvin Gouldner
hat dies einmal als die Dialektik zwischen Romantizismus und Klassizismus
bezeichnet, die einer sozialtheoretischen Beschreibung der Wirklichkeit seiner
Meinung nach am nächsten kommt[7]. Unser Zusammenleben und unser Menschsein
wird letztlich dadurch charakterisiert, dass wir mit Hilfe unserer Sprache,
also durch Begriffssetzung, ständig mit der "aber was?" Frage beschäftigt sind;
sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik. Der "wahre", aber
unbestimmt bleibende Kern fungiert somit nur noch als Motor im Hintergrund, der
uns zu immer neuen Höchstleistungen im Erfinden von neuen Begriffen für die
Beantwortung der "aber was?" Frage antreibt. Der konservative Ideologe gibt
sich schnell mit einer Begriffssetzung zufrieden, und einmal gefunden und lieb
gewonnen beharrt er auf ihr, unabhängig wie weit sich der "wahre" Kern
mittlerweile vom Begriff entfernt hat. Der linke Materialist hingegen glaubt
hingebungsvoll daran, dass er letztendlich die Lücke, die sich zwischen dem
"was der Fall ist" und seinen Begriffen auftut, schließen wird können, Kraft
seines Intellekts. Der Witz am linken, progressiven Versuch sich der Wahrheit
anzunähren, ist nun dass er ständig den konservativen Ideologen neue Begriffe
in die Hand spielt auf denen diese dann beharren können! Genau wie es mit der
bereits erwähnten linken Kritik der siebziger und achtziger Jahre an den 68ern
später tatsächlich geschehen ist. Genau so erklärt sich auch, dass aus den
progressivsten Linken nicht selten die konservativsten Ideologen werden.
Irgendwann geht ihnen einfach die Kraft zur Begriffssetzung aus, und sie
verharren der Einfachheit halber in dem was sie als letztes behauptet haben.
b) Was macht den "Neoliberalismus"
"wirklich"?
Angewendet auf
unsere Thematik können wir jetzt
folgende Behauptung aufstellen: der Neoliberalismus ist als linker
Begriff eines Versuches der Erklärung "was der Fall ist" in die Welt gekommen.
Sein wahrer Kern war zusätzlich und als Welterklärung groß und beständig genug,
um ihn für ein Festhalten am Begriff, also als eine Ideologie, attraktiv zu
machen. In diesem, für seine heutige
Wirkmächtigkeit, alles entscheidenden Moment ist er von einer linken, und
progressiv negativen Momentaufnahmen der Wirklichkeit in ein reines Faktum
übergegangen, das nur noch von Ungläubigen angezweifelt wird. Und zwar, im
Moment des übergangs, von den Ungläubigen beider Seiten. Heute sind wir damit
in eine Situation übergetreten wo sich die Frage stellt wer eigentlich dabei
mithilft, das Gebilde "Neoliberalismus" am Leben zu erhalten; wer wie und auf
welche Weise seinen Anteil daran hat, den Neoliberalismus immer wieder von
neuem als Realität, in der wir "unumstößlich" und "unzweifelhaft" zu leben
behaupten, zu bestätigen? Ist es die Linke, die sich, zwar negativ, und
ursprünglich als "neue" Zustandsbeschreibung der Ausbeutungszusammenhänge
gesetzt, auf ihn ständig bezieht. Oder sind es inzwischen nicht vielmehr die
Protagonisten des Neoliberalismus selber, die in ihm eine neue Heimat finden.
Eine Heimat wie sie sie sich sehr wahrscheinlich zuvor in ihren kühnsten
Träumen nicht hätten vorstellen konnten. Hier begegnen wir einer Falle in die
sich diejenigen, die sich gerne dualistisch (und eben nicht dialektisch) auf
etwas beziehen, leider allzu oft begeben. Indem sie sich ausschließlich negativ
auf einen bestimmten Begriff beziehen, ihn als "Feind" bekämpfen, und dies
immer und überall, verleihen sie diesem Begriff, den sie doch so sehr verachten,
eine Wirklichkeit, die sie ihm eben gerade nicht wünschen. Wem zum Beispiel das
Gesetz als eine Ungerechtigkeit erscheint, oder wer einfach keine Lust hat sich
daran zu halten, dem erwidert es gerade dann selbstbewusst: "siehst du, ich
wusste dass du mich übertreten willst und deswegen bin ich hier!" Mit einigem
Abstand wird es dann entschieden unklar ob das Gesetz oder aber sein übertritt
zuerst da war.
Für die Praxis
der linken Gesellschaftskritik wird damit deutlich: um im politischen Kampf
eine Position einnehmen und eine Front bilden zu können, muss sie benennen,
einen Begriff finden: für das, was sie selbst ausmacht, ihr kollektives "Wir"
und für das, was für sie als "der Gegner" bezeichnet wird. Indem sie jedoch den
gefunden Begriff anwendet und permanent wiederholt, produziert sie erst eine
durch sie selbst benannte Vorstellung der Welt, die sukzessive einen immer
größeren Anteil an unserer Vorstellung von Wirklichkeit fordert. Interessant
dabei ist die Eigendynamik, die eine solche "linke Benennung in Permanenz"
entfalten kann: die Benennung durch einen Begriff strukturiert fortan die
Perspektive des linken Denkens, aber auch die des erklärten Gegners, der sich
in seiner zugewiesenen Rolle schneller als irgendjemand lieb sein kann
einrichtet und zurecht findet. In dieser übergangsphase, in der aus einer
spektakulären Analyse eine für beide Seiten liebgewonnene Identität wird,
verschwindet das eigentlich linke, progressive Projekt und entsteht die
Blindheit für das querliegende, das brüchige, das nicht-passende, das
un-logische in den Welterklärungen, den Antworten auf die Frage: "Es ist etwas!
Aber was?". Damit wird spätestens jetzt eine neue Realität erzeugt, die
schließlich aus der Perspektive beider Seiten, ob negativ oder positiv, als "so
und nicht anders", als "wahr" und als "unabänderlich" erscheint.
In der Praxis
funktioniert das in etwa folgendermaßen: Wenn ein ATTAC-Funktionär den
Wirtschaftsteil einer Tageszeitung liest, wird er unbewusst oder bewusst in
den Börsen- und Politikmeldungen nach Belegen danach suchen, die seine
spezifische Weltwahrnehmung bestätigen was ist an dieser oder jener Meldung
neoliberal? Es ist sicher, dass er bei seiner Lektüre auch fündig werden wird,
da die Schlagwörter, die die ökonomie des dritten Jahrtausends dominierenden
Massenentlassungen, Dividendensteigerungen, Unternehmensgewinne, identisch
geworden sind mit dem Schlagwort "Neoliberalismus". Unser Funktionär wird diese
Meldungen also wieder und wieder zum Anlass nehmen, bei der nächsten
Podiumsdiskussion die Belege als Beweis für seine These von den "neoliberalen
Zeiten" einzunehmen. So stellen wir beim Begriff des Neoliberalismus eine
schleichende Entwicklung von seinen Ursprüngen in der ökonomie des freien
Waren- und Geldflusses verbunden mit dem Nationalen-Sicherheitsstaat (die
Geldströme sind frei; die Menschen aber werden festgehalten) fest, hin zur
Charakterisierung des gesamten, weltweiten Haushalts, der ökonomie "wie sie nun
einmal heutzutage ist". Nicht ahnend, dass mit der ständigen "Anrufung" des
Begriffs dem wachsenden und stets mehr alle gesellschaftlichen Interaktionen
durchdringenden Ungeheuer namens "Neoliberalismus" neues Leben eingehaucht
wird, transformiert unser exemplarischer ATTAC Funktionär den Begriff vom
kritischen Konzept, zum reinen Fakt.
Für diese Art der Transformationen gibt es nun viele Beispiele deren
Wirkung auf unsere Vorstellung von dem was ist, und vor allem von dem was sein
sollte jedoch meist im Dunklen bleibt, allerdings umso spektakulärere
Konsequenzen zeitigen kann.
Der deutsche
Sozialist, Roberto Michels, glaubte Anfangs des 20. Jahrhundert so sehr an die
Faktizität des Klassenkampfs, dass er schließlich die Notwendigkeit einer
herrschenden sozialen Gruppe als "absolut grundlegend" für das politische und
soziale Leben überhaupt erachtete. 1907 nahm er als Repräsentant des
revolutionären Flügels der deutschen Sozialisten an einer Konferenz in Paris
zum Thema Syndikalismus und Sozialismus teil, auf der er sich zusammen mit
anderen italienischen und französischen Syndikalisten vehement gegen
parlamentarische Demokratie, Internationalismus und Liberalismus, also die
Sozialdemokratie, aussprach. Diese hätte den Glauben an den Klassenkampf
verloren und den Sozialismus damit verraten. Roberto Michels wurde schließlich,
wie viel andere französische, englische und italienische Sozialisten, Faschist.[8]
Ein anderes
Bespiel aus neuerer Zeit bei dem kritische Begriffsarbeit zu unkritischer
Ideologie oder Dogmatismus wird, ist die sogenannte "anti-deutsche"
(Selbstbezeichnung) Bewegung. Diese entstand als kritische Gruppe innerhalb der
Linken mit dem Ziel linke Dogmatismen, den versteckten bis offenen linken
Antiamerikanismus, den in der Linken oftmals virulenten Antisemitismus, und die
verdrängte Nähe zu Faschismus und Nationalsozialismus (siehe oben) aufzudecken,
und immer wieder kritisch zu hinterfragen. Leider ist dieser für die Linke
zunächst extrem produktive Ansatz langsam aber sicher durch die unkritische
Fixierung auf zwei Anti-Begriffe selbst im reinen Dogmatismus gelandet. Dem
"anti-deutschen" Vorwurf, wie es kommen könne, dass Linke nationalistische
Fahnen, wie etwa die palästinensische, tragen können, die zudem patriarchale
und religiöse Fanatismen repräsentieren, wurde das vehemente Tragen einer
anderen Fahne entgegengesetzt, nämlich der israelischen. Heute schlagen sich
zionistische "anti-deutsche" Linke und die autonome anti-zionistische Palästina
Fraktion mit ihren jeweiligen Fahnen gegenseitig die Köpfe ein. Eine klassische
anti-kritische Wende von der kritischen Begriffsarbeit zur Ideologie der
Zeichen und Begriffe. Je statischer und mechanistischer sich die
"anti-deutsche" Bewegung auf "Deutschland" bezieht, und sei es negativ, desto
stetiger wird damit nichts anderes behauptet, als dass es so etwas wie "Deutschland"
tatsächlich gibt. Dabei ist es gerade dieser gewalttätige Mythos, der hinter
einer Vorstellung lebt, dass jenseits eines Flusses der Oder heißt andere
Menschen lebten, genau dieser Begriffsmythos ist es der von kritischen Linken
nach dem Nationalsozialismus angegriffen wird. Nur unsere Bemühungen die
Begriffe offen, unfertig und instabil zu halten, ist die Strategie die uns vor
der dogmatischen Katastrophe bewahrt. Die Katastrophe des Nationalsozialismus
gründet ja auch in der Einschließung eines Mythos in den kritischen Kampf, also
der Einbeziehung der kategorialen Begriffe Nation und Volk, als alle sozialen
Beziehungen durchdringende und unhinterfragbare Instanzen, für die ansonsten
international gescheiterte Durchsetzung des Sozialismus, zumindest auf
nationaler Ebene8.
c) Die drei Phasen der Begriffssetzung
Ein in die
Welt oder ins kollektive Bewusstsein vorgedrungener Begriff durchläuft
grundsätzlich drei Phasen. Zunächst seine assoziative Setzung angestoßen
von dem "was ist" und ins Werk gesetzt durch die menschliche Einbildungskraft
und die synthetisierende Wirkung des wachen Verstandes[9].
Dann seine empirische Beschleunigung die abhängt von dem praktischen
Nutzwert des Begriffs im menschlichen Alltag, sprich schlicht die Möglichkeit
den Begriff gewinnbringend, d.h. mit einer großen Nähe zu dem "was ist", in der
Kommunikation zu verwerten. Und schließlich seine langsame Verselbständigung
zum Mythos, bei dem der Begriff nur noch wegen ihm selbst existiert, d.h. der
Begriff ist sein eigenes "das was ist" und entfernt sich damit immer mehr von
seiner ursprünglichen Setzung. Während der empirischen Beschleunigung wird der
Begriff, dadurch dass er ständig herumgereicht wird, mit immer neuen
Assoziationen beladen und aufgeladen, die ihn schließlich auch ganz von seiner
ursprünglichen Bedeutung abkoppeln können. Entscheidend ist, dass dies seiner
Wirkmächtigkeit keinen Abbruch tut. Und auch der Geist des ursprünglichen
Grunds der Setzung bleibt am Begriff haften, in dem Sinne, dass das bestimmte
Gefühl weiter existiert, es habe einen guten Grund - "das was war" - gegeben,
wegen dem der Begriff in die Welt kam.
Der
ursprüngliche, assoziative Entstehungshintergrund des Begriffs "Outsourcing",
kann bis heute in jedem Handbuch für Manager am Flughafen nachgeschlagen
werden. Das "was war (und ist)", ist das Bedürfnis oder auch der Druck eines
Unternehmens Arbeitskosten zu sparen, zum Beispiel durch die Auslagerung von
Tätigkeiten in der Hoffnung, dass durch den Druck der globalen Konkurrenz und
der Rolle von Niedriglohngebieten im internationalen Markt,die Sub-unternehmen
das benötigte Produkt billiger anbieten müssen/können, wie man es selbst im
Moment herzustellen in der Lage ist. Die Wirkmächtigkeit dieses Ursprungs
haftet dem Begriff "Outsourcing" auch heute noch an. Allerdings sind einige
Assoziationen hinzugekommen: Zum Beispiel das Potential des Begriffs bei seiner
Anrufung kurzfristig die Aktien eines Unternehmens in die Höhe (teils auch nach
unten, je nach Bedarf) zu treiben. Die empirische Beschleunigung und Aufladung
zu seiner heutigen Wirkmächtigkeit hat der Begriff jedoch durch den
unzweifelhaften Erfolg einiger Wirtschaftsbereiche beim Kosten sparen in der
massenhaften Durchführung von Produktionsauslagerungen vor allem während der
90er Jahre erhalten. Der heutige Stand seiner Mystifizierung und
Wirkmächtigkeit wird dadurch deutlich, dass er als selbständiges Argument (ohne
weitere Erklärungen, also als sich selbst genügender Begriff und Grund)
unternehmensinnen- und außenpolitisch funktioniert, obwohl in vielen Bereichen
sein mittel- bis langfristiger und manchmal sogar schon sein kurzfristiger,
ökonomischer Erfolg längst in Frage gestellt ist: Da die technische
Rationalisierung und Vervielfachung der Produktivität, die Lohnstückkosten
weiter nach unten treibt, steht der menschenleeren Produktionshalle in
Deutschland bald die menschenleere Produktionshalle in Bangladesch gegenüber,
und die Unternehmen bleiben auf einem unermesslich teuren überhang an Kommunikationskosten,
steigenden Transportkosten, Qualitätssicherungsproblemen, Probleme des
Spezifikations- und Konfigurationsmanagements mit beträchtlichem juristischen
Vertragsaufwand und Kosten bei langen Iterationszyklen sitzen, und das in einer
Zeit der sich weltweit angleichenden Lohnstückkosten. Deswegen kann heute schon
vorrausgesagt werden, dass dem jetzt neu gesetzten Begriff der
"vertically-integrated-production"[10]
eine ähnliche Erfolgsgeschichte inklusive seiner Mystifizierung beschieden sein
wird, wie sie einst dem "Outsourcing" vergönnt war. Ein schwacher Trost für
diejenigen Opfer des Mythos "Outsourcings" die in den letzten Jahren
ökonomisch, "ungerechtfertigter" Weise entlassen oder in Zulieferbetrieben
ausgebeutet werden (und natürlich auch für alle anderen ökonomisch
"gerechtfertigten" Opfern).
Aufgabe linker
Kritik muss es sein gegen die Mystifizierung der Begriffe oder zumindest gegen
die Wirkmächtigkeit und Opfer mystifizierter Begriffe zu kämpfen. Auch
derjenigen Begriffe die von Linken selber in die Welt gebracht wurden[11].
Einmal wegen den genannten Opfern der Mystifizierung (zum Beispiel den Opfern des Nationalsozialismus durch die
Mystifizierung der Begriffe "Revolution", "Sozialismus", "Nation", "Volk", und
"Rasse") zum andern aber auch, weil die nicht zu schließende Lücke zwischen
Begriff und "dem was ist" aufrechterhalten werden muss! Der Grund für letzteres
ist offensichtlich: Die einzige Möglichkeit für Politik existiert
ausschließlich im Spielraum zwischen dem was Begriffe zu meinen scheinen, und
dem wie sie noch und anders interpretiert werden können, also dem "was ist".
Politik spielt sich nur genau dort ab und ist nur durch die Existenz dieses
Spielraums möglich. Politik "ist" dieser Spielraum. Sonst würden wir in einer
Welt leben in der Politik gänzlich durch Administration und durch die Einsicht
in die technischen Notwendigkeiten ersetzt wäre, was natürlich auch das Ende
jeder Form von Demokratie bedeuten würde. Deswegen argumentiert Ernesto Laclau
in "On Populist Reason"[12],
dass das "weich machen" von Begriffen durch den Populismus eben keine
existenzielle Gefahr für Politik und Demokratie darstellt, wie immer wieder
gerne kolportiert wird, sondern gerade ihre eigentliche Vorraussetzung ist.
Doch zurück zu
den Begriffszyklen. Während der Phase seiner empirischen Beschleunigung braucht
der Begriff Nahrung er wird gefüttert. Zum Beispiel durch das Bemühen eine
logisch stringente, in sich stimmige und für die jeweiligen Bedürfnisse
passende Argumentation zu finden (und dieses Bemühen ist fundamental und
konstitutiv für jeden, der Politik betreibt, weil er überzeugen möchte und
plausibel machen möchte, um letztlich Unterstützung zu erhalten). Dadurch
erzeugt der politisch tätige Mensch mitunter genau durch ihre schiere
begriffliche und logisch spektakuläre Präsenz eine stimmige Wirklichkeit, die
er eigentlich bekämpfen möchte. Wer also kapitalismuskritisch unsere
Volkswirtschaft und die dazugehörige Wirtschaftspolitik beleuchtet und als
"neoliberal" kritisiert, bewirkt dreierlei:
-
Sie/er erschafft,
wie wir gesehen haben, zunächst die als "neoliberale" bezeichnete Wirklichkeit,
indem er sie benennt,
-
Sie/er
versorgt sie mit Lebensenergie, indem er die Benennung ständig wiederholt und
damit reproduziert und
-
Sie/er
unterstellt ihr eine Rationalität und Funktionalität, und damit eine
Wirkmächtigkeit, die sie mit Hilfe ihres wahren, unbestimmt bleibenden Kern,
dem "was ist", allein vermutlich niemals erreichen würde.
Man kann also durchaus sagen, dass der Kritiker des Neoliberalismus den Neoliberalismus als Begriff größer macht als das was er zu bezeichnen und erklären in der Lage ist. Mehr noch, anstatt seinen "wahren Kern" zu bekämpfen, verstärkt er seine irrationalen Anteile. Das was abseits des im traditionellen Diskurs über den Neoliberalisums zu erfahrenen liegt, das was nicht stimmig an gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen ist die als "neoliberal" bestimmt werden, das was sich als schlichter Mythos erwiesen hat und die Unterscheidungen in das was kontingent oder brüchig ist, findet sich in der Auseinandersetzung um "neoliberale" Verhältnisse oftmals nicht wieder. Genau aber jene Brüche sind es, die es auszumachen gilt, wenn man den gegenwärtigen, politökonomischen Verhältnissen zu Leibe rücken will. Genau jene Inkonsistenten der von wem auch immer zur Durchsetzung von was auch immer gesetzten Begriffe, sind es, die zum Ausgangs- und Zielpunkt einer linken Gesellschaftskritik werden müssten. Die Frage die sich uns also stellt lautet: wie die Welt verändern, ohne die Macht über die Begriffe zu übernehmen?
[1] Wir kennen natürlich das klassische Beispiel, dass "Deutschland" ohne Krieg, Mord und Totschlag als gesellschaftlich konstruierte Realität nicht zu verändern ist,, genau wie "Frankreich", "England", etc. Dies obwohl wir Raum und Zeit des Seins "Deutschland" nicht vermessen können, jede vernünftige, physikalische Messanordnung sich daran die Zähne ausbeißen muss. (Vgl. auch Volker Koehnen, Die Sozialisierung der Psychatrie, systeme, 2/07, Jg.21, 2007.)
[2] Dieses "Wir" kann hier als nichts anderes als ein das eigene individuelle Selbstbewusstsein ersetzendes kollektives Bewusstsein gedeutet werden, oder, wie Freud es in Massenpsychologie und Ich-Anlyse, Gesammelte Werke XIII, Zehnte Auflage, 1998, beschreibt, "eine Masse von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben". Freud beschreibt dies als die typische Konstitution einer "Masse" mit Führer, wobei der Führer, wie bei den von ihm angeführten Beispielen der Kirche oder des Militärs, aber auch des aufkommenden Sozialismus, wahlweise aus einer Person oder aus einer diese Person ersetzenden Idee bestehen kann.
[3] Dessen Leitmotive, Rechtsstaat, parlamentarische Demokratie und freie Entfaltung des Einzelnen, wurden schon zu Ende des 19. Jahrhunderst von vielen Sozialisten und den romantischen Bewegungen und später den Faschisten angegriffen, übrigens aus durchaus ähnlicher Motivation heraus, weil hinter dem Liberalismus die Durchsetzung von Partikularinteressen gegenüber den Interessen und Bedürfnissen des Volkes, der Massen, also eines spezifischen gemeinschaftlichen "Wir" vermutet wurde.
[4] Es ist absolut falsch zu behaupten die Neofaschisten wären hier auf einen neuen, populären Zug aufgesprungen. Der Kampf gegen den Liberalismus und die Moderne liegt an der Wiege des Faschismus selbst (vgl. z.B., Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie, Verbrecher Verlag).
[5] Negri und Hardt haben erkannt dass die Fallstricke die der negative Bezug auf "Globalisierung" verursacht für denjenigen, linken Teil der Bewegung, der sich in der marxistischen Tradition der sozialistischen Internationale und des Operaismus sieht fatal sein können.
[6] Vgl. auch Diedrich Diederichsen, So genannte Generationen, Jungle World Nr. 1, 2008.
[7] Vgl. auch Marinus Ossewaarde, The
Dialectic between Romanticism and Classicism in Europe, European Journal of
Social Theory, 10(4): 523-542, 2007.
[8] Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie, 1. Auflage, Verbrecher Verlag, Berlin 2002, S. 45ff.
[9] Woher die menschliche Einbildungskraft ihre Begriffe rational oder assoziative nimmt soll hier nicht näher beleuchtet werden, da es für die vorliegenden Gedanken unwesentlich ist. Gegen den kantischen Begriff der Einbildungskraft als Ausdruck der Vernunft der den atomistischen Charakter der Dinge zusammenfügt, setzt Hegel die Einbildungskraft als negative Kraft, welche die Dinge wie sie sind in der "Nacht der Welt" in ihre Einzelteile zerlegt, also in die Partialobjektmonster unseres Unterbewusstseins und unserer Träume, während der synthetisierende Verstand (nicht die Vernunft!) sie erst später wieder zum realen, ganzen Begriff zusammensetzt.
[10] Vgl. zum Beispiel die Wirtschafts- und Marketingstrategie von American Apparel.
[11] Von den analytisch spannendsten und politisch wirksamsten sind das interessanterweise sowieso die meisten.
[12] Ernesto Laclau, On Populist Reason,
Verso, 2005.