Reichtum oder Profit
Über das Schicksal des Kapitalismus

Rüdiger Lang

22. Juli 2015

Einleitung

Unterschiedliche Zeitalter menschlicher Zivilisation und Gemeinschaft, die wir oft als ”Systeme”, im Folgenden als ”symbolische Ordnungen”, bezeichnen, sind jeweils durch lang anhaltende Phasen stabiler, ästhetischer, also ethischer und politischer, herrschender Vorstellungen, und ihren jeweiligen ökonomischen, materiellen und sozialen, Bedingungen, gekennzeichnet1. Beim Übergang von der einen zur anderen symbolischen Ordnung ändern sich einige dieser Konstanten nachhaltig. Jedoch nicht notwendig alle! Zum Beispiel hatten sich mit dem Übergang vom Altertum zum Mittelalter, also mit dem Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus, vor allem die Begriffe sozialer und politischer, also ”objektiver” gesellschaftlicher Hierarchien und Ordnungen verändert. Die nachhaltigen Änderungen in diesen Ordnungskategorien orientierten sich wiederum zumeist an der Schwächung oder Stärkung von bestimmten Religionspraktiken, also zum Beispiel der Schwächung des Polytheismus zugunsten des Monotheismus. Dabei änderten sich mit diesem Übergang die konkreten, ”objektiven” Vorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft, also ihrer Idee von ”Welt”, oder dem ”was ist”. Denn unsere Vorstellung von Wirklichkeit ist jeweils nach Maßgabe der jeweils herrschenden, symbolischen Ordnung strukturiert, und sie gibt nur so jedem Einzelnen, den Individuen, erst ihre je eigene Identität, zum Beispiel als Bauer, Handwerker, Fürst, als Ausgestoßener, Berechtigter, oder Rechtloser. Und erst dadurch wird dieses Individuum zu jenem selbst-reflektierten, sich selbst anerkennenden und anerkannt fühlenden Subjekt, das wir heute, in den modernen Gesellschaften, als Träger moderner, liberaler Ideologien erkennen.

Bei dem genannten Beispiel des Übergangs vom Altertum zum Feudalismus änderten sich jedoch die ökonomischen Rahmenbedingungen kaum. Im Mittel war der Reichtum der Jäger und Sammler, also der nicht sesshaften Kulturen, ähnlich hoch wie der der sesshaften - also zum Beispiel der Einwohner Italiens zu Zeiten der italienischen Renaissance2. Auch wenn die Verteilung des Reichtums bei gänzlich unterschiedlichen Klassenstrukturen in den genannten, symbolischen Ordnungen durchaus sehr verschieden war, zwischen dem Ende der ersten großen Zivilisationen in Babylonien oder China, und dem Ende der Renaissance in Mitteleuropa gab es kaum ein nennenswertes, ökonomisches Wachstum3. Trotz der substantiellen Veränderungen in den Lebens- und Gesellschaftsbedingungen dieser Kulturen, und trotz der substantiellen Veränderungen in der Vorstellung der Einzelnen was den ihr zugewiesenen Platz in der Gesellschaft betrifft, hatten diese sozialen und politischen Veränderungen anscheinend kaum Auswirkungen auf die ökonomischen Kernparameter: Wachstum, Reichtum und Profit4. Im Mittel waren die Einwohner Fankfurts am Main, also zur Mitte des 18ten Jahrhunderts genauso arm oder reich, wie die Jäger und Sammler der Eiszeit, oder die germanischen Stämme, die in der Varus-Schlacht gegen die römische Zivilisation kämpften. Signifikante Unterschiede gab es vor allem bei der Frage der Verteilung dieses unveränderlichen Reichtums und also der Frage wem qua Geburtsrecht oder Berufung welcher Anteil am Gesamtreichtum zusteht. Kurz, was Reichtum betrifft ging es letztlich um die Frage wer dazu berufen war reich zu sein und wer für sein Überleben arbeiten musste. Letztere waren über die Jahrtausende bis etwa Mitte des 18ten Jahrhunderts der größte Teil der Bevölkerung, die berühmten 99%, und es zeigte sich, dass dieser Teil immer nur genau so viel arbeitete, bis er nach Abzug aller Kosten, zu denen zum Teil auch substantielle Abgaben an die besitzende Klasse der 1% gehörten, alles notwendige zum Leben und dem Erhalt der Familie und ihrer Fortpflanzung erwirtschaftet hatte, und niemals mehr. Dieses Grundprinzip der Subsistenzwirtschaft, die Malthus in seinem Essay über die ”Prinzipien des Bevölkerungswachstums” zu Beginn des 19ten Jahrhunderts zum ersten Mal in ökonomischen Begriffen beschrieben hatte, war von den Ökonomien der Jäger und Sammler bis etwa Mitte des 18ten Jahrhunderts in allen menschlichen Zivilisationen wirksam. Die Volkswirtschaftlerinnen sprechen deswegen auch, vielsagend, vom ”Malthusian Trap”. Es gab damit und bis um 1750, in der Vorstellung der Menschen keinen politisch oder ethisch unabhängigen Wert reich zu werden. Reichtum war an Macht gebunden und Macht und Stand waren an eine tief verwurzelte Vorstellung von ”natürlichem” Geburtsrecht, sowie an das militärische Recht des Stärkeren, also allgemein stark an darwinistischen Naturrechtsprinzipien, orientiert. Reichtum war also - und wie wir sehen werden, iste er es bis heute - zuvorderst eine symbolische Kategorie.

Bis zum Ende des Feudalismus war Reichtum also eine Frage des gesellschaftlichen Geburtsrechts, also des Standes. Er war Ausdruck einer feudalen, symbolischen Ordnung. Es gab im Gegensatz zur Moderne also keine Vorstellung von einem ganz persönlichen, individuellen Recht auf Reichtum. Heißt, dass etwa jede, wenn sie nur kann, im Prinzip berechtig ist so viel Reichtum anzuhäufen wie sie nur will. Und tatsächlich hat noch im Feudalismus kaum jemand Reichtum an sich angestrebt5. Außer er stand mit ihm, dem Reichtum, in einem sehr instrumentellen Verhältnis zur Macht, wie es, zum Beispiel, sehr exemplarisch in Shakespears Kaufmann von Venedig zum Ausdruck kommt: die Position des ”nur” Reichen war eine gesellschaftlich rechtlose, und nur insofern geduldet, wie diese zur Aufrechterhaltung der eigentlichen, der standesgemäßen Macht taugte.

Die Vorstellung von Reichtum als Bedürfnis, als erstrebenswertes, individuelles Glück, das die Aspekte Überleben und Familienerhalt deutlich übersteigt, also als Fetisch, dies ist eine sehr moderne Erfindung, und sie wäre ohne die dramatischen, ethischen und politischen Folgen der Aufklärung, und mit ihr einer substantiellen Änderung vieler bis dato hegemonialen, ethischen Werte in der Gesellschaft, vor allem aber ohne die Erfindung des politischen und freien Individuums als dem Kern moderner, liberaler, symbolischen Ordnungen, undenkbar. In der Vorstellung von Reichtum und seiner Verteilung, also in der Frage wem Reichtum zusteht und wem nicht, gab es mit der Aufklärung also eine substantielle Verschiebung, die sich auch in den historischen, ökonomischen Messungen von Reichtum deutlich niederschlägt. Und zwar zunächst in einem deutlichen, vor allem nun ökonomischen, Bedeutungsverlust genau dieses Reichtums von Mitte des 18ten Jahrhunderts bis ungefähr zur Mitte des 20ten Jahrhunderts6. Aber dann erleben wir heute, dass sich seit den siebziger Jahren der mittlere, quantitative Reichtum, zumindest in den ökonomisch entwickeltsten Gesellschaften wieder einem Niveau annähert, den er noch gegen Ende des 18ten Jahrhunderts in Mitteleuropa hatte. Dies allerdings nun unter gänzlich anderen, strukturellen Verteilungsbedingungen, die aber vor allem damit zu tun haben was ”reich zu sein” damals bedeutete und was es heute bedeutet. Die Frage ”was ist es uns wert” und warum ist es uns das wert, ist aber ein sehr komplexes Zusammenspiel sehr vieler, wenn nicht aller, herrschenden ästhetischen Vorstellungen von Welt, die unsere Gesellschaften charakterisieren. Sie ist also gebunden an den ”Zustand der Situation”, also an unsere jeweiligen symbolischen Ordnungen.

Ohne diese Bindungen an die Art und die Vorstellung von Wertigkeit in der herrschenden, symbolischen Ordnung ist jedoch die von einigen Ökonomen in den letzten Jahren intensiv studierte Langzeitentwicklung der ökonomischen Parameter Wachstum, Profit und Reichtum nicht zu verstehen. So wertvoll die Arbeiten Clarks und Pikettys für jeden Marxisten und für die Ökonomie an sich sein müssen (ich kann nur jedem Linken dringend empfehlen sich damit auseinanderzusetzen) so sehr mangelt es ihnen jedoch an einer bestimmten, wesentlichen Einsicht, die Marx in der Nachfolge Hegels (und am besten noch herausgearbeitet bei Lukacs7) hatte: Ökonomie tappt ohne die dialektische Betrachtung des Subjekts und seiner Vorstellung von Welt, die sie in dieser und durch diese Gesellschaft erst vermittelt bekommt, im Dunkeln, gerade wenn sie versucht ihren Analysen und Messungen, über die eigenen Modelle hinaus, Bedeutung abzugewinnen.

Dies kann nämlich nur gelingen, wenn Ökonomie versteht was das einzelne Individuum in Folge der vorherrschenden, gesellschaftlichen Meinung für etwas wert erachtet. Genau das war ja die fundamentale Kritik von Marx an Ricardo, Smith und Malthus, nämlich dass es ihren modellhaften Beschreibungen von Ökonomie an einer Wertetheorie mangelt, die erst durch den Hegelschüler Marx8 in eine Theorie münden konnte, die beschrieb was schon zu Ricardos Zeiten evident war (und heute um so mehr durch die vorliegenden, langen, historischen Zeitreihen bestätigt wird): Mit der Industrialisierung fand eine substantielle Verschiebung in der symbolischen Ordnung statt, die im Einzelnen viele sozio-ökonomischen Gründe hatte (aber davon später mehr), die aber darin schließlich charakteristisch wurde, dass Reichtum sowohl für die hegemoniale Gesamtgesellschaft, als auch für das Individuum, einen ganz anderen, wesentlich untergeordneteren Stellenwert einnahm, als dies noch fünfzig bis hundert Jahre zuvor der Fall war. Und damit, folglich und ursächlich, ein ganz anderer, ethischer Player auf dem Markt der symbolischen Ordnungen von Werte und Begriff auftauchte, und, zumindest zwischenzeitlich, dort die Oberhand behielt: der Profit.

Wohlgemerkt, beide Kategorien des Reichtums und des Profits, erhalten erst durch das Bedürfnis des Einzelnen sich einem oder mehreren dieser rein ästhetischen Werte nach Maßgabe der gesellschaftlichen Bedingungen zu verschreiben, also als ”Fetisch”, ihre charakteristische Ausprägung. Sie sind also zuvorderst ethische Kategorien und eben keine ökonomischen. Die Kategorien Reichtum und Profit charakterisieren eine bestimmte symbolische Ordnung mit ihrer je spezifischen, vorherrschenden Werte- und Wertvorstellung, nach dieser und nach diesen sich dann, je nach ethischer Sachlage, auch die je spezifischen ökonomischen Parameter richten, oder gar grundsätzlich ändern können. Solch eine radikale Änderung der ökonomischen Parameter auf Grundlage einer Wertverschiebung rein ethischer Kategorien von Reichtum zu Profit, also als charakteristische Zuschreibung für symbolische Macht, gab es nun genau beim Übergang vom Feudalismus zur Moderne. Reichtum als gesamtgesellschaftlicher Standesfetisch verschiebt sich hin zum individuellen Profitstreben und schließlich wieder zurück, zum individuellen Reichtum als Statussymbol in der Postmoderne. Gerade in einer Gesellschaft wie der Postmoderne hat sich das Individuum schließlich als ”maßgeblich”, auch über die hegemoniale Verschiebung der Fetische hinaus, etabliert. Dieser historisch also, vorrübergehende Einbruch des Profit-Fetisch währen der Zeiten der klassischen Moderne (im Fordismus), so zeigen es uns heute die historischen, ökonomischen Analysen Clarks und Pikettys, war es was die Hochphase des Kapitalismus vielleicht noch am stärksten charakterisiert hat. Und viele der neueren Studien kommen eben nun genau zu diesem Ergebnis (ob links-liberal bis marktliberal): Der Kapitalismus wird heute bedroht vom Backlash eines, zwar in seiner ästhetischen und ethischen Struktur und Verteilung veränderten, aber doch für die Logik kapitalistischer Profitgleichungen fatalen, Reichtumsfetisch. Da nimmt es nicht Wunder, dass die gleichen Ökonomen, zumal die links gerichteten, die die Zeichen der Zeit als potentielle Rückkehr zu (neu-)feudalistischen Zeiten ganz richtig erkennen und entsprechend eine sehr berechtigte Angst vor dieser haben, dass diese Ökonomen in ihren Streitschriften für die Rettung des Kapitalismus durch Umverteilung plädieren. Also für ein Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft werben. Dies ist anhand der vorliegenden ökonomischen, historischen bis aktuellen ”Kerndaten”, meiner Meinung nach zumindest nachzuvollziehen. Aber!

Um die Kritik an den im Folgenden besprochenen, gleichwohl wichtigen und exponierten ökonomischen Analysen, und ihrer meist unausgesprochenen, praktischen Konsequenzen gleich vorweg zu nehmen: Alle diese Arbeiten zeigen ein gehöriges Maß an einem neurotischen Verhältnis gegenüber jeglicher Art dialektischer Wertetheorie. Die Verdrängung geht einerseits so weit, dass sich fast alle auf vielsagende und meist sehr vage Art und Weise von Marx meinen distanzieren zu müssen, ohne dass ihre eigenen Analysen jemals substantiell Widersprüchliches zu den Marxschen zu Tage fördern würden. Im Gegenteil, meist Unterstreichen sie den kapitalistischen Istzustand in einer marxistischen Analyse des Kapitals bis in die kleinsten Details9. Andererseits zeigen eben jene, vagen Argumentationen die uns hier als ”Kritik an marxistischer Ökonomie” verkauft werden, wie nachhaltig und neurotisch hier ein ganz anderer Aspekt verdrängt werden soll. Denn alle, und nicht zuletzt Piketty, unterschätzen oder verdrängen jenen signifikanten Anteil, den die Transformation von selbständiger bis leibeigener Fronarbeit, bis zur massenhaften, abgängigen Lohnarbeit, sowie die Abschaffung der Sklaverei an der Verschiebung vom Reichtumsfetisch zum Profitstreben, hatte. Denn genau dieses geht aus Piketty’s und Clark’s Arbeiten durchaus spektakulär hervor. Beide entziehen sich damit jedoch und nicht zuletzt selbst einer wichtigen Grundlage, angesichts des drohenden Untergangs des Kapitalismus in der neo-feudalen Ordnung, über ihre eigenen ökonomische Analyse hinaus politische Einsichten zu entwickeln, die tatsächlich auf der symbolischen Ordnungsebene und im emanzipatorischen, also im linken-liberalen Sinne, wirksam wären, und die gerade damit eine politische Wirkung entfalten könnten, die über das ”Zurück” zur sozialen Marktwirtschaft, also über den ”reaktionären” Affekt eines verständlichen, jedoch sehr erschrockenen ”...dann lieber zurück zum Rheinischen Kapitalismus”, hinausginge.

Diese Ignoranz gegenüber marxistischer Wertetheorie drückt sich sogar auf der rein formalen Ebene der ökonomischen Analysen selber aus. Und zwar in Form von immer und immer wieder nicht vollständig (teilweise mathematisch, teilweise syntaktisch) ausdefinierten und ausformulierten Modellen. Gerade bei Piketty. Der es ziemlich wahrscheinlich natürlich besser weiß oder wissen sollte. Man aber gerade deshalb den Eindruck nicht vermeiden kann, dass hier etwas strategisches, etwas ideologisch motiviertes, mit schlampiger Notation unter den Tisch gekehrt werden soll. Und dieser Eindruck verstärkt sich zusätzlich noch dadurch, dass ein Buch, das sich mit viel Chuzpe ”Kapital” nennt nur mit extrem schwachen, vagen und kurz gehaltenen Verweisen, wirklich auf Marx rekurriert. Aber davon später mehr.

Schwerer wiegt, nicht nur bei Piketty, auch bei Clark und Azemoglu10 wie gesagt, das gänzliche Fehlen einer Wertetheorie. Was automatisch dazu führt, dass Wert und Reichtum, dass also die Frage was (statisches) Kapital zu jedem Moment ausmacht, gänzlich unter den Tisch fällt. Dies hat aber wiederum zur Folge, dass in den genannten, hoch komplexen und kompetenten, volkswirtschaftlichen Analysen, der normative Charakter von Reichtum (was ist etwas wert und warum, in seiner absoluten Form), außer in seiner statistischen, relativen Verteilung und deren Änderung über die Zeit, gerade auch bei Piketty, niemals vorkommt.

Dies bedeutet schließlich, dass gerade die grundstürzende und unerhörte Qualität einer Bedeutungsverschiebung von einer feudalistisch geprägten Anerkennung von Reichtum, über den kapitalistischen Fetisch für Profit, und zurück zum individuellen, ”wertschätzenden” Reichtum des Ichs in der Moderne, sich niemals entfalten kann. Dadurch verpassen Piketty und Clark, wichtige Schlüsse aus ihren eigenen Analysen zu ziehen, die in der Lage wären jenseits traditioneller, sozialdemokratischer Umverteilungs-Ökonomie (die notwendig andere wichtige gesellschaftliche Werteverschiebungen seit den 50er Jahren des 20ten Jahrhunderts bis heute ignorieren muss) politische Wirkung zu entfalten. Die Frage ist doch in was für einer symbolischen Ordnung und mit welchen evidenten, großen ökonomischen und ästhetischen Verschiebungen und Transformation, leben wir heute im Vergleich zu 1940 und 1750. Diese Frage muss bei Piketty und Clark offen bleiben.

Es muss aber notwendig der Anspruch jeder linken Kritik der herrschenden Verhältnisse sein, unter Heranziehung der Ökonomie als ein Teil ihres Ausdrucks, die heraufziehende und von allen vorliegenden Autoren teilweise kongenial bestätigte Götterdämmerung der kapitalistischen Ordnung, aus emanzipatorischer Sicht zu betrachten. Die kapitalistische Ordnung wird heute wohl am meisten von einer Ordnung bedroht, die wir hofften seit 1789 hinter uns gelassen zu haben. Und wir uns dadurch nun in der wenig erfreulichen Situation befinden, dass wir uns politisch gegen beide stemmen müssen. Also gegen Kapitalismus und gegen Neo-Feudalismus. Voraussetzung, dass solch eine Herkules-Arbeit überhaupt noch gelingen kann ist allerdings, dass auch die Linke erkennt, dass Reichtum und Profit Aspekte durchaus gegensätzlicher, reaktionärer Kräfte sind. Dass man sich also gegen beide wenden muss, und dass dies aber mit ganz unterschiedlichen, politischen Mitteln zu geschehen hat. Und vor allem mit ganz unterschiedlichen Analysen ihrer jeweiligen, modernen Formen der symbolischen Ordnungen. Also deren Symbole der Macht, des Erfolgs und allgemein des ästhetischen Lebens. Denn der linke Fetisch für die Repräsentanten des institutionellen Staatsapparats geht heute so weit, dass der an letzterem entwickelte Aktionismus linker Bewegungen nicht mehr in der Lage ist zwischen den eigentlich reaktionären Kräften, den Repräsentanten einer repressiven hegemonialen Idee von Reichtum und den Repräsentanten einer repressiven hegemonialen Idee des Profits, in Schule, Religion, familie und Zivilgesellschaft, weder ökonomisch noch politisch zu unterscheiden. Nur wenn die Linke diesen Unterschied aus einer ökonomischer Analyse heraus, gepaart mit einem Verständnis für das dialektische Spiel ästhetischer Wertekategorien, also marxistischer Wertetheorie versteht und verinnerlicht hat, nur dann kann einsichtig werden, warum der Fetisch für Profit und der Fetisch für Reichtum jeweils zwei ganz unterschiedliche Ordnungen, mit ihren jeweils unterschiedlichen reaktionären, gesellschaftlichen Kräften repräsentiert. Und warum jener der Untergang des anderen war, aber auch warum dieser andere jenen vielleicht heute wieder zur Strecke bringen kann.

Nur nach genau solch einer Durchdringung und Analyse des Zustands der Situation können wir wieder zurück zur marxistischen Tagesordnung gehen, in der Hoffnung die dritte Möglichkeit, die sozialistische Perspektive, überhaupt nur wieder ins Spiel bringen zu können. Eine Perspektive, die heute, wegen der beschriebenen Auseinandersetzungen dieser zwei hegemonialen Widersacher und leider auch wegen der allgemeinen Verwirrung in der Linken gegenüber ihren jeweiligen ästhetischen und ökonomischen Kategorien, kaum eine Chance hat. Leider sind wir wohl heute, gerade wegen einem sehr verbreiteten Desinteresse in der Linken gegenüber ökonomischer Kategorien und gegenüber Kategorien ästhetischer, symbolischer Ordnungen, weiter denn je von einer emanzipativen Alternative neben Kapitalismus und Neo-Feudalismus entfernt als je zuvor.

1Zum Begriff ”symbolische Ordnung” wie er hier eingeführt und im folgenden verwendet wird siehe, zum Beispiel, R. Lang, Der Staat according to Hegel, oder, Der Geist der Bewegung, www.ifkt.org.

2Gregory Clark, A farewell to Alms, Princeton University Press, 2007.

3Clark, 2007.

4In wieweit dies auch mit dem Kontext in dem die Begriffe Wachstum, Reichtum und Profit ihre heutige Bedeutung bekommen haben, nämlich dem Kontext der ökonomischen Wissenschaft in einer kapitalistischen Ordnung, spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle kann hier aber nicht weiter erörtert werden und sollte aber an anderer Stelle erörtert werden.

5Außer vielleicht die Partei der Piraten!

6Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Belknap-Harvard, 2013.

7Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein, Aisthesis Verlag, 2013. Siehe zum Beispiel auch Andrew Feenberg, The Philosophie of Praxis, Verso, 2014.

8Engels versuchte später diesen wichtigen marxistischen Beitrag so weit wie möglich herunter zu spielen. Und erst Lenin hat ihn dann in den Hegeltagebüchern zu seiner eigenen Konvertierung herangezogen, bis Lukacs ihr zu vollem Recht verholfen hat. siehe zum Beispiel Kevin Anderson, Lenin, Hegel and Western Marxism, Illinois, 1995.

9Dies wird in den folgenden Kapiteln im einzelnen dargelegt.

10Azemoglu and Robinson, Why Nations fail, Crown Buisness, 2012.