Nachdem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) bei der letzten Bundestagswahl knapp über der 20% Schwelle geblieben ist, wurde allerorten die Frage nach dem Verbleib der berühmten Basis diskutiert, welche der SPD mittlerweile angeblich fehlt. Darauf ist natürlich sofort mit der Gegenfrage zu antworten, welche Basis denn gemeint sein könnte, die die SPD zuvor angeblich repräsentiert hätte, und die man jetzt vermissen könnte. Und damit wären wir auch schon bei der Arbeiterbewegung angelangt, die, zumindest historisch gesehen, einst eine Basis der SPD Mitglieder war. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die momentane Prozentkrise der SPD nur der Endpunkt einer langen, anhaltenden Entwicklung von Mitglieder- und politischem Relevanzverlust darstellt. Und es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Arbeiterbewegung, und mit ihr die Gewerkschaften, in einer ganz ähnlichen Krise befinden. Auch wenn angesichts der Frage nach der breiten, einer Volkspartei angemessenen, Basis der SPD viele sofort einwenden mögen, dass die SPD in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts doch längst im bürgerlichen Milieu angekommen ist und aus diesem mittlerweile viele ihrer politischen Ideen und Werte bezogen hat, so behaupte ich, dass es sich angesichts der momentanen Situation der SPD lohnt, die Parallelität zwischen der nachhaltigen Krise der SPD einerseits, sowie der nachhaltigen Krise der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften andererseits, näher zu betrachten.
Was oder wer ist eigentlich diese Arbeiterbewegung? Ich möchte hier eine Definition wagen, der ich mich im folgenden relativ dogmatisch unterwerfen werde, nicht ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass einige andere Definitionen, auf anderen Wegen andere, interessante Erkenntnisse zeitigen mögen. Wie in der Mathematik auch ist jedoch die Fruchtbarkeit der aus einer Axiomatik hervorgehenden Konstruktion für die Fragestellung wichtiger, als eine rigorose Fundierung der Axiomatik selber. Dessen eingedenk soll die Arbeiterbewegung hier folgendermaßen definiert werden: Sie ist diejenige Bewegung, die (progressiv) über ihr aktuelles Verhältnis, und das des Menschen im Allgemeinen, zur Lohnarbeit nachdenkt, und daraus Schlüsse zieht, die dieses Verhältnis, wenn nötig im Arbeitskampf, und nach Maßgabe eines moralischen Koordinatensystems entweder bekämpft, um es neu aus- oder aufzurichten, oder verteidigt, um Errungenschaften zu erhalten1. Für den sozialdemokratischen Anteil der Arbeiterbewegung hieß und heißt diese Dogmatik: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität (FGS). Die nachhaltige Krise der SPD liegt folgerichtig darin begründet, dass die Auseinandersetzung über die konstruktive oder destruktive Rolle von Lohnarbeit in der heutigen Gesellschaft im Hinblick auf die Verwirklichung von FGS, selber in die Krise geraten ist. Der Grund dafür liegt wiederrum in der großen Dominanz begründet die Lohnarbeit an der Vorstellung gegenüber dessen hat, was menschliche Arbeit ganz allgemein für die gerechte, solidarische Gesellschaft heute leisten kann und muss. Die gegenwärtige Krise der Lohnarbeit liegt damit im eigentlichen Sinne am Ursprung der Krise von SPD und Gewerkschaften, und diese ist wiederum nichts weiter als eine Krise des Selbstverständnisses und der Selbstverordnung der ehemaligen Arbeiterbewegung(en). Die Krise der Lohnarbeit ist aber nicht nur eine Krise der Arbeiterbewegung. Sie ist eine Krise des Kapitalismus! Marx hat in seiner Wertetheorie darauf hingewiesen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt gesellschaftliche Arbeit zu be-werten. Der Kapitalismus ist nun jedoch gerade dadurch charakterisiert, dass in diesem der absolute Warenwert, gegenüber dem relativen Gebrauchs- und Tauschwert einer Ware, nicht an irgendeiner aller möglichen Formen von Arbeit bemessen wird, sondern ausschließlich am Wert der Lohnarbeit. Eine Krise der Lohnarbeit ist also zuvorderst eine Krise des Kapitalismus. Dass in solch einer Krise Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, noch vor den Banken und Unternehmen, als erste Opfer zu beklagen sind, zeigt wie sehr diese sich dem kapitalistischen Werteparadigma Lohnarbeit über die letzten hundertfünfzig Jahre verschrieben haben.
Wie stark die Symbiose Arbeiterbewegung/SPD - Lohnarbeit - Kapitalismus ist zeigt sich ganz deutlich daran, dass der Beginn der Krise der sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen der Nachkriegszeit mit dem Beginn der Krise der Lohnarbeit in den siebziger Jahren zusammen fällt. Damals begann die Krise der Lohnarbeit, in der Art wie wir sie heute kennen, als Folge einer Mehrwertkrise des Nachkriegskapitalismus an deren Permanenz und Virulenz sich bis heute nichts geändert hat. Der entscheidende, strategische Sündenfall des parlamentarischen Arms der Arbeiterbewegung in Deutschland, also vor allem der Sozialdemokratie der Regierung Schmidt, war damals die komplette Einstellung einer innerparteilichen, ideologischen und intellektuellen Auseinandersetzung über das Spannungsverhältnis zwischen der Veränderung moderner Lohnarbeitsverhältnisse einerseits, und der Rolle, die Lohnarbeit in der damals noch herrschenden, sozialdemokratischen Dogmatik, also in einer freien, solidarischen und gerechten Gesellschaft, zu spielen hat andererseits. Mit der abrupten Einstellung dieser Diskussion durch eine politische Befriedung der parteiinternen, als ”ideologisch” stigmatisierten, Dogmatikdiskussionen, begann unter der immer stärker werdenden Herrschaft der, als politische Pragmatik getarnten, sogenannten ”Einsichten in die ökonomischen und faktischen Notwendigkeiten”, die Zersplitterung der parlamentarischen Linken in ihre im Großen und Ganzen drei Teile, wie wir sie heute im Bundestag antreffen: die Grünen, die Linkspartei und die SPD. Dieser Dreiteilung des parlamentarischen Arms der Arbeiterbewegung ging die Zersplitterung der außerparlamentarischen Opposition (APO) in K-Gruppen, Punks, und Poplinke voraus, sowie der linken Kommunen in die Partisanen der Urbanität, später die Gentrifizierer der Innenstädte, oder in quasi-totalitäre Glaubens-, und Lebenshilfegemeinschaften zwischen Charles Manson und Kommune Friedrichsdorf. Mit diesem Zerfall wurde der produktive, permanente linke Diskurs über das seinerseits permanente Spannungsverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Rolle von Lohnarbeit einerseits und einer bestimmten Dogmatik von FGS (im Folgenden der Einfachheit halber mit A-FGS abgekürzt) andererseits ad acta gelegt. Gerade der sukzessive Verlust eines Bedürfnisses nach Dogmatik2, wie er sich in der systematischen Ächtung einer Theorie des ”demokratischen Sozialismus” im Grundsatzprogramm der SPD ausdrückte, ließen die Ende der siebziger Jahre ins Kraut schießenden Analysen der Krise der Nachkriegsgesellschaft (dann noch nicht als eine Krise der Lohnarbeit identifiziert), vom alternativen Lebenskonzept bis zur terroristischen Aktion, in eine gähnende, parteiinnenpolitische Leere laufen.
Wie schon in Theologie und Mathematik ist die Dogmatik jedoch die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Konstruktionen der Auseinandersetzungen und Diskurse eben nicht in Programmen und Absichtserklärungen verstauben, sondern tatsächlich produktiv werden können. Für die Naturwissenschaft ist die mathematische Axiomatik genau diejenige Dogmatik, die die Voraussetzungen zur Verfügung stellt nicht nur modellhaft, sondern ganz konkret zum Mars fliegen zu können, während für die Theologie die Dogmatik des Glaubens die einzige Möglichkeit einer ganz konkreten und praktischen Kommunikation mit Gott als dem großen Anderen darstellt. Nur durch einen Akt des Willens, der sich selbst die politischen Grundsätze auferlegt aus denen eine politische Klasse, welcher Couleur auch immer, geformt werden kann, kann das Politische überhaupt in Gang gesetzt werden und wird das nackte, biologistische Leben des Homo Sacer zum Politischen, der Homo Sapiens zum Bürger, und das wegen seiner defizitären Konstruktion der Natur hilflos ausgelieferte Tier, wird nur durch die Dogmatik, die seine Sprachbegabung seiner Vorstellung von Welt und Natur auferlegen, zum Subjekt. Nur durch den immer wieder neu problematisierten und damit politisierten Bezug auf FGS wird die Rolle der Lohnarbeit in der Gesellschaft erst zum politischen Gegenstand und damit überhaupt versteh oder gar formbar, und diejenigen, die solch einen Diskurs am Leben erhalten, zu politischen Wesen einer politischen Klasse, oder einer Partei.
Als nun mit dem Beginn der Ära Schmidt der Diskurs um A-FGS, langsam aber bestimmt aus dem Bewusstsein und der Praxis der Partei und der Arbeiterbewegung insgesamt, vertrieben wurde, begann unvermeidlich auch der Zerfall des parlamentarischen Arms der Linken, zunächst mit der Entstehung alternativen Listen (AL) und der Gründung der Partei AL/Die Grünen, und schließlich mit der Abspaltung der Linkspartei, deren Geburt nicht zufällig ganz am Ende eines langen und steten Verfallsprozesses steht. Bis Ende der achtziger Jahre drückte sich im Streit zwischen grünen Realos und Fundis noch eine übriggebliebene Emphase dieses Teils der Linken für die Auseinandersetzung über eine politische Dogmatik bis hinein in die politische Praxis aus, zumindest bezüglich eines ökologisch ausgerichteten Wertesystems und Menschenbildes. Später kulminierte dann die post-89er Phase linker Depressionen und Befindlichkeiten nicht zufällig in der Abspaltung einer Bewegung mit der Eigenbezeichnung ”die Linke”, die aus den regressiv gewordenen, pubertär-narzisstischen Neigungen der mittlerweile versprengten Gruppen der Arbeiterbewegung und ihrer Vorsitzenden, zwischen ”kleiner Mann” und ”Wir-sind-das-deutsche-Volk” Rhetorik, eine Partei formte, mit der sich die SPD, aber auch große Teile der außerparlamentarischen, kritischen Linken seither herumzuschlagen hat.
Damit ist die im ersten Abschnitt definierte und so ins Leben berufene und wieder verabschiedete Arbeiterbewegung, unter dem Eindruck der äußeren Krise der Lohnarbeit und den Prämissen ihrer inneren Gedankenverlorenheit, heute im Großen und Ganzen in drei Teile zerfallen.
Den ersten Teil kann man als den esoterisch (nach innen gerichteten) auf die Ergründung des Wesens des Menschlichen im Verhältnis zur äußeren Natur gerichteten, naturökonomischen Teil der Linken bezeichnen. Dieser zunächst wertkonservative (Erhard Eppler) Ansatz geht davon aus, dass nur die naturökonomisch stringentesten Werke des Menschen und ihre Erhaltung ihn in ein adäquates, weil für sein Selbstverständnis notwendiges Verhältnis zur Naturökonomie (Ökologie) stellen. Nur dann darf sich der Mensch berechtigte Hoffnung auf FGS machen, wenn er sich zu seinen natürlichen Wurzeln bekennt, das heißt im Einklang mit der Natur einerseits und damit seinem authentischen Selbst andererseits lebt. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Glaube an das authentische Leben im authentischen, natürlichen Sein, also das Bedürfnis nach einem in Gleichklang mit den natürlichen, äußeren Kräften lebenden Menschideal, schließlich in eine neo-konservative Selbsterhaltungspolitik einer ökologischen (Selbst-)Befindlichkeitsethik umschlagen musste. Nachdem die Frustration der aus quasi-totalitären Selbstfindungsprojekten Zurückgekehrten am weiterhin ganz aussichtslosen Erfolg der Verwirklichung eines ganzheitlichen, globalen und wertkonservativen Lebens sich im weiter ausbreitenden, immer unübersichtlicheren, politischen und ökonomischen ”Chaos der Globalisierung” nach 1989 weiter verstärkt hat, schwoll auch das Bild vom strukturell Bösen im sozialen Wesen des Menschen, weil auf Kosten seiner identitätsstiftenden, natürlichen Ressourcen lebend, immer weiter an, und man wendet sich heute deshalb lieber der Pflege seiner ganz persönlichen Latte-Macciatisierung des Innen(stadt)lebens, sowie den Koalitionen mit der CDU zu. Auf einer ökologisch korrekten, regionalen Ebene versteht sich. Schließlich fühlt man sich weiterhin einer, nun jedoch strukturkonservativ gewendeten, Erhaltung der spirituellen Kräfte im digitalen Alltag verpflichtet und natürlich der Rettung des großen Anderen der ganzen Menschheit: der Natur.
Den zweiten Teil der zerfallenen Linken kann man als deren regional-sozialistischen Anteil bezeichnen. In seinem Bezug auf A-FGS vertritt er den religiösen Anteil, das Prinzip Hoffnung derer, die sich als ”die-da-unten” fühlen auf die Konkretisierung eines eventuell sogar revolutionären Traums im Hier und jetzt gegen (!) ”die-da-oben”, oder alternativ ”denen-da-drüben”. In der von Gorgio Agamben so bezeichneten ”messianischen Zeit”, in der der Messias (Marx, die Arbeiterbewegung, Lenin, etc..) schon längst angekommen und wieder gestorben ist, hat man sich deshalb in einer ewigen, aber deswegen nicht weniger schwierigen Zwischenphase, irgendwo zwischen endgültigem Untergang und Paradies, eingerichtet. Bei diesem Teil der Linken ist die Auseinandersetzung um A-FGS schon lange aus ihrem dialektischen Zeitalter herausgetreten und eignet sich nun noch allenfalls zur Fetischisierung in verschiedene Objekte, geopfert auf den modernen Altären des Ressentiments gegen Arbeitsmigranten, amerikanischer Kultur und finanzkapitalistische Heuschrecken, gegen die weiter fleißig mit Fahnen, Plakaten und Devotionalien angeschrien wird. Dieser Teil der Arbeiterbewegung fantasiert gleichzeitig von den verflossenen vergangenen als auch den zukünftigen Revolution als Erlösungstheologie und übersieht dabei geflissentlich, dass eine Revolution per Definition das ist was die Revolutionäre am Vorabend der Revolution nicht wollten, und außerdem nur retrospektivisch als solche (als Event3) anerkannt werden kann. Was jedoch denen, die im messianischen Zeitalter leben, in dem vor der Revolution und nach der Revolution ineinander übergehen, natürlich egal ist. Ein anderes Problem des narzisstischen Traums dieser Bewegung von Revolution ist, dass es extrem unwahrscheinlich ist im Voraus zu wissen wer tatsächlich hinterher am Laternenpfahl baumeln wird. Klar, ”die Linke” träumt natürlich davon dort die Manager, Heuschrecken und Banker des Neoliberalismus baumeln zu sehen, aber, tja, shit happens...
Das Bedürfnis nach Jetzt-Verwirklichung eins feuchten A-FGS-Traums ist jedoch nichts anderes als der narzisstisch-pubertäre Wunsch eines Sieges über die symbolische Ordnung an sich, also über den Ödipus, oder eben ”die Anderen”, oder ”die-da-oben”, und das wirklich Beunruhigende daran ist, dass je länger der Cherub die Paradiestür des Revolutionsspektakels geschlossen hält, desto höher die Frustration anschwillt, und es immer unwichtiger werden wird, welche spezifische, symbolische Ordnung es eigentlich zu überwinden galt4. Hauptsache sie wird im Hier und Jetzt zerstört - in unserem Regionalsozialismus.
Bleibt der dritte Teil des linken Restbestandes, also genau diejenigen 20% Sozialdemokratie, als die wir diesen heute kennen. Dieser Teil der linken Bewegung hat das Nachdenken über die Dialektik von A-FGS mittlerweile aufgegeben, und sich einer von den sogenannten Notwendigkeiten bestimmten Politik hingegeben. Diese Notwendigkeiten sind meistens nach dem Prinzip der vorherrschenden Expertenmehrheitsmeinungen aus dem politischen wie ökonomischen Baukasten der Möglichkeiten heraus sortiert, und ihre politische Auswahl durch die SPD vermisste zuletzt fast jeden Bezug zu einer Dogmatik von FGS. Der entscheidende Vorteil des restsozialdemokratischen Anteils der Linken gegenüber den zuvor beschriebenen Teilen der linken Arbeiterbewegung liegt jedoch darin begründet, dass er seine politische Ästhetik relativ weit entfernt von der typischen Ästhetik resentimentgeladener oder proto-faschistischer Politik auslebt, zumindest dort wo diese gegenüber der normativen Kraft des Faktischen als politische Geste überhaupt noch zum Zuge kommt. Die SPD hat in ihren besten Zeiten von genau diesem Spannungsfeld zwischen verantwortungsbewusstem Beitrag zum Gemeinwesen (dem politischen Kompromiss) und der intellektuellen Auseinandersetzung über das Verhältnis dieses Kompromisses zur Dogmatik von FGS gelebt. Dies waren die erwachsenen Zeiten der Sozialdemokratie! Zeiten in denen dem Narzissmus des Widerstands gegen die symbolische Ordnung, die intellektuelle Kraft und die politisch, kämpferische Präsenz eines Brandts, Wehners und Epplers gegenüberstand, die doch, im nachhinein betrachtet, dem ewigen Kampf des Arbeiters gegen die Ignoranz und Arroganz der politischen aber auch der popkulturell herrschenden Klasse näher waren, als die Gesten der Eroberung der Fabriken durch den SDS, des Bundestags durch die Betulichkeiten eines turnschuh- und blümchentragenden Fischers, oder die schwer zu ergründenden Befindlichkeiten eines Lafontaine es jemals waren. Nicht weil ein Willy Brandt oder ein Herbert Wehner etwas von einem einfachen Arbeiter gehabt hätten, noch dass sie dies jemals behauptet hätten, sondern weil sich in ihrem politischen Leben, in ihren Gesten der politischen Macht, sowie in ihrem intellektuellen Schaffen die Dialektik von A-FGS ausdrückte.
Wenn wir diesem Vorbild folgen hat eine zukünftige Zusammenführung der Linken in der Sozialdemokratie oder einer ähnlichen Bewegung der ehemaligen Arbeiterbewegung, folgendes zur Voraussetzung:
Die bisher beschriebene, politische Krise des Nachdenkens über das Verhältnis von schöpferischer und/oder produktiver Arbeit zur Antwort auf die Frage ”wie wollen wir leben?”, das heißt in Freiheit, Gerechtigkeit, und Solidarität (die Krise des A-FGS Komplexes) fällt zusammen mit der Krise des Warenwerts durch die Krise der im Kapitalismus bestimmenden Form von Arbeit: der Krise der Lohnarbeit. Da die Lohnarbeit in der Moderne fast alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens (der gesellschaftlichen Werte), das heißt fast alle gesellschaftlichen Transferleistungen, politischer, ökonomischer, oder kultureller Art, dominiert, ist es kein Wunder, dass eine Krise der Lohnarbeit eine Neuausrichtung des Diskurses über A-FGS zur Folge haben sollte, was aber innerhalb der Linken nur in ganz unzureichendem Maße geschieht. Folgerichtig folgte auf die Krise der Lohnarbeit eine Krise der Dialektik des Komplexes A-FGS und schließlich der gesamten Arbeiterbewegung. Die Linke läuft seitdem der Krise des Kapitalismus in Form der Krise des Warenwerts und des Profits in ihrer Entwicklung hinterher. Es bleibt ihr meist wenig mehr als in jeder neuen, durch eine erneute Transformation kapitalistischer Ausbeutungszusammenhänge, hergestellten Situation den enormen Verlust an Solidarität (und mit ihr an Freiheit und Gerechtigkeit) zu beklagen, der sich, wieder einmal, in der (Lohn-)Arbeiterbewegung eingestellt hat. Der Kapitalismus war eben schon immer schneller als die Linke, wenn es darum geht eine Methode der Ausbeutung gegen eine Andere, produktivere auszutauschen, während die Linke noch damit beschäftigt ist aus der Dialektik des A-FGS von gestern eine Klassenarithmetik von heute abzuleiten. Was heute ein Betrieb war ist morgen schon die reine Selbstausbeutung, die gerade noch Lohnarbeit genannt werden darf, wenn sie nicht eigentlich schon zur Selbstverwirklichung zählt, und der Manager, der gestern noch seine Angestellten terrorisiert hat ist morgen schon Opfer der gleichen, immanenten Herrschaftsverhältnisse, die ihn zuvor zum Ausbeuter machten. Dabei tritt die Linke immer wieder in die selbe Falle den Kapitalismus zu personalisieren anstatt ihn zu systematisieren und einzusehen, dass viele Menschen, gerade in den westlichen Industrie-, und Konsumnationen, heute oftmals sowohl Opfer wie Akteure, sowohl Produzenten wie Konsumierende, Besitzer wie Produzierende im selben System sind.
Zu Zeiten der Entstehung der großen Arbeiterbewegungen war das gesellschaftliche (politische) Transformationspotential entweder durch den Einsatz oder die Verweigerung von lohnabhängiger Arbeit immens, und erst dieses Potential hat zur Geburt der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften wie Sozialdemokratie, geführt. SPD und Gewerkschaften haben ihre Stärke seitdem ganz aus dem wahlweise produktiven, oder subversiv destruktiven Potential von Lohnarbeit bezogen. Mehr noch, ohne das massenhafte Phänomen der lohnabhängigen Industriearbeit hätte es die Arbeiterbewegung, wie wir sie bis heute kennen, nicht gegeben. Es ist so gesehen ein ganz banales Unterfangen, ja eine notwendige Schlussfolgerung, aus einer Krise der Lohnarbeit auf eine Krise der Arbeiterbewegung zu schließen.
Aber gibt es diese Krise der Lohnarbeit, die eigentlich eine Krise des Kapitalismus ist, tatsächlich? Müssen wir nicht wieder einmal von einer vorübergehenden Schwächung des Arbeitsmarktes reden. Haben nicht auch frühere Krisen des Arbeitsmarktes letztlich wieder in die Vollbeschäftigung oder zu enormen Wachstumsraten, bei besser verteiltem Wohlstand für alle geführt? Oder kann man die anhaltende Krise der Lohnarbeit nicht ganz einfach einer verfehlten Wirtschaftspolitik zuschreiben, die sich, weg von einer nachfrageorientierten Ökonomie, einer neo-liberalen Ökonomie der ungehemmten Akkumulation zugewendet hat? Oder ist dies einfach das Problem der Revolution die nicht kommt?
Am Ursprung eines langsamen aber letztlich unaufhaltsamen Abschied vom Kapitalismus und damit auch von der Lohnarbeit wie wir sie heute kennen, der für uns alle auch ein Abschied ins Ungewisse sein wird, steht ein für Marx zentraler Widerspruch des kapitalistischen Wirtschaftens: die Tendenz zu fallenden Profitraten in Zeiten des freien Wettbewerbs5. Oder anders ausgedrückt, je länger und nachhaltiger sich der Kapitalismus von der Reglementierung der Kapitalmärkte befreit, bei gleichzeitiger Zementierung einer staatlich, oder durch internationale Institutionen garantierten, einheitlichen und globalen Wirtschaftsordnung, desto weniger Gewinn fährt er langfristig ein6. Dass selbst Nobelpreisträger von der Simplizität dieses Widerspruchs verwirrt sein können beweist Paul Krugmann in ”Return of Depression Economics” eindrucksvoll. ”Anfang der 70er Jahre”, schreibt Krugmann, ”verlangsamt sich das Wachstum aus Gründen, die immer noch etwas im Dunkeln liegen”. In der Tat verlangsamte sich seither das globale Wachstum von Jahr zu Jahr aus Gründen die für die meisten, nicht-marxistischen, Ökonomen, Krugmann eingeschlossen, anscheinend ein großes Mysterium bleiben.
Das globale Wachstum viel von jährlich 3.5% in den 60er Jahren bis auf 2.4% in den 70ern, um schließlich bei 1% in den 80er und 90er Jahren zu landen. Dabei muss man zusätzlich berücksichtigen, dass sich globale Wachstumsraten um 1% in den 00er Jahren leicht als illusorische Investition in eine Zukunft erweisen könnten, die eigentlich schon längst ausschließlich von ihren Ressourcen lebt. Selbst gut ausgebildete Europäer und Amerikaner merken heute, dass sie die Kapitalakkumulationsraten ihrer Eltern, die oftmals eine schlechtere Ausbildung genossen haben, niemals werden erreichen können, von deren Altersversorgung ganz abgesehen. Im Gegenteil, viele leben schon heute bis weit in ihr berufliches Leben hinein direkt durch Unterhalt, oder indirekt durch Erbschaft, vom Profit den ihre Eltern in den 50er bis 70er Jahren angehäuft haben.
Gleichzeitig mit dem kontinuierlichen Fall der Wachstumsraten entstand in den 70er Jahren die Finanzindustrie, die seitdem einen immer größeren Teil der weltweiten Gewinne, anteilig zur Gesamtwirtschaft, erzielte. Schon in den 80ern überstieg der Gewinn der Finanzwirtschaft den der traditionellen Industrien in Amerika, und heute kommt die traditionelle Industrie in Europa und Amerika auf gerade noch einmal ein Viertel vom Gesamtgewinn. Dadurch wird einerseits deutlich, dass die von neoliberaler Seite postulierte Rolle des effektiven Geldverteilens zum Wohle der traditionellen Industrie genauso hinkt wie andererseits die katastrophale Lage der Gesamtwirtschaft deutlich wird, gäbe es die Finanzindustrie nicht. Fälschlicherweise ist genau der letzte Punkt derjenige, der die Romantiker der traditionellen Wirtschaftsweise von ”der Linken” bis zu sozialdemokratischen Predigern der Heuschreckensintflut, dazu bringt der Finanzwirtschaft in toto die Schuld für die Misere in die Schuhe zu schieben, nach dem Motto: gäbe es die Finanzwirtschaft nicht, hätte die traditionelle Industrie dreiviertel mehr vom Kuchen. Nichts ist falscher, denn die Situation ist wesentlich schlimmer und Ressentiments, wie immer, kein guter Ratgeber. Die Geschichte geht aus marxistischer Perspektive anders:
Der schon in den 20er und 30er Jahren einsetzende Niedergang der Profitraten wurde durch die totale Zerstörung des europäischen und japanischen Wirtschaftsraumes zum erliegen gebracht. Mit der dann einsetzenden, enormen Nachkriegsnachfrage nach nicht -militärischen Gütern, konnten schon in den 50er und 60er Jahren auf nationaler Ebene zweistellige Wirtschaftswachstumsraten erzielt werden, auch wegen der Abwesenheit eines signifikanten und destruktiven, globalen Wettbewerbs. Mit der Sättigung der nationalen Nachfrage entwickelten sich gerade Deutschland und Japan zu Exportnationen und die Wiederaufnahme des globalen Wettbewerbs7 zeitigte alsbald die von Marx postulierten Folgen. Firmen die international absetzbare Waren wie Autos, Elektronik, Kleidung und Lebensmittel verkauften konnten nur überleben, indem sie die Preise für ihre Waren reduzierten. Die Tatsache, dass sich heute eine Mehrheit der Europäer und Amerikaner noch immer ein Auto und einen Computer leisten können, ist allein der Tatsache sinkender Profitraten und billiger Kredite geschuldet, die mit einem enormen Anstieg der Produktivität teilwiese kompensiert wurden. Nun führt dieser enorme Produktivitätsanstieg nur tiefer in die Krise hinein. Für Marx ist deswegen eine Gewinnerhöhung durch Erhöhung der Produktivität nur eine relative (in Raum und Zeit) Mehrwerterhöhung. Der erst kürzlich erfolgte Einstieg von China in die Produktion, der zunächst rein innenpolitischen Gründen geschuldet war, hat das Problem nur weiter verschärft. Der chinesische Einstieg in die weltweite Produktion hat nach Robert Brenner dazu geführt, ”dass die weltweiten Produktionskapazitäten deutlich schneller angestiegen sind, als sie anderswo vernichtet werden konnten, mit der Folge, dass wir nun mit tonnenweise überflüssigen hightech Gütern überschwemmt werden, die niemand mehr kaufen will”.
Die klassische, wirtschaftsliberale Analyse machte noch bis tief in die 90er hinein die steigenden Löhne und Arbeitsnebenkosten (Stichwort: ”Standortdebatte”) für die fallenden Profitraten verantwortlich. Eine plausible Erklärung - jedoch nur bis in die 70er Jahre. Schon seit den 80er Jahren sind die ”zu hohen Löhne” reine Propaganda und der Anteil der Arbeitskosten an der Produktion (Lohnstückkosten) ist in Deutschland seit den 90er Jahren nicht mehr signifikant gestiegen8. Die hohen Löhne der 60er und 70er Jahre sind längst Geschichte. Was seitdem überlebt hat ist das systematische Übergewicht von kurzfristigem Investment und Finanzspekulation gegenüber nachhaltigen, langfristigen Investitionen. Dazu kam, nicht ganz zufällig, die informationstechnologische Revolution, die die Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung stellte das Volumen der täglichen Finanztransaktionen von 2.3 Milliarden zu Beginn der 80er Jahre auf 130 Milliarden im Jahr 2001 ansteigen zu lassen. Ungefähr 1% davon ist nötig um jeden Tag den traditionellen Handels- und Industrieproduktionssektor aufrecht zu erhalten. Letzterer ist seitdem dabei die schwindenden Gewinne mit der Suche nach und der Ausbeutung geringerer Löhne auszugleichen. Erst wurden die schon zu Beginn der 70er Jahre durch ihre hohe Produktionseffizienz gesättigten Binnenmärkte Deutschland und Japan zu Exportweltmeistern, dann traten die asiatischen Tigerstaaten und schließlich China mit ihrer endlosen Reservearmee an billigen Arbeitskräften auf den Plan und begannen die Weltmärkte mit immer billigeren, aber auch immer besseren Produkten zu überschwemmen. Auch die USA nützten ein Jahrzehnt, zwischen 1985 und 1995, dazu durch eine unterbewertete Währung und effektives Outsourcing in die Sweatshops Lateinamerikas, zu einem Revival amerikanischer Produktion. So hat das noch junge Zeitalter der neoliberalen Globalisierung in Rekordzeit ihr selbstprognostiziertes Ziel der totalen Verbilligung des Angebots (für die bisherigen Konsumenten der großen Märkte) erreicht.
Wie steht es aber mit der Nachfrageseite? Das grundsätzliche Problem mit Arbeitern im postfordistischen Zeitalter ist es, dass man ihnen nicht nur so viel Lohn wie möglich vorenthalten sollte, damit die Warenproduktion billig (niedrige Lohnstückkosten) bleibt, sondern, dass sie auch so viel Geld wie möglich verdienen sollten, damit sie sich die Waren auch leisten können. Gleichzeitig bedeuten niedrige Löhne langfristig nicht nur fallende Lohnstückosten in der Produktion (womit mittelfristig der relative Mehrwert erhöht werden kann) sondern auch einen langfristig fallenden Warenwert im Verkauf und somit fallende Gewinnmargen. Wie Marx richtig festschreibt bleibt das ultimative Problem des Kapitalismus eine sich massenhaft ausbreitende Armut. Das ultimative Resultat sinkender Löhne, so wie wir es in den heutigen Krisen kennenlernen, ist, dass zu viele Fabriken, zu viel produzieren, für zu wenig Käufer.
Die strukturelle Lösung für das Dilemma der grassierenden Armut durch sinkende Einkommen (aber nicht für die strukturelle Wertminderung der Waren) war so kongenial wie unhaltbar. Wenn die Lohntüte nicht mehr alle Autos, Urlaube und Häuser bezahlen konnte, dann mussten die europäischen, amerikanischen und japanischen Konsumenten einfach mit besseren Kreditlinien versorgt werden. Das Geld um ein Haus zu kaufen konnte einfach gegenüber der Erwartung einer zukünftigen Wertsteigerung der Immobilie in den besagten Regionen geliehen werden. Natürlich konnten schon bald die ersten immer ärmer werdenden Arbeiter ihre Schulden nicht mehr bezahlen, aber das machte nichts, solange noch jemand Anderes das Haus, inklusive Schulden, potentiell kaufen würde. Das heißt, dass einfach die heutige, durch billige Kredite erzielte, erhöhte Nachfrage, gegen eine zukünftige weiter erhöhte Nachfrage abgesichert wurde, für die es allerdings keine plausible Quelle gab. Finanzinvestoren bündelten einfach diese Kredite, oder diese Einzelwetten auf einen zukünftigen Anstieg der Immobilienpreise, in immer neue Kreditpakete, die schließlich einfach nur noch eine Wette darauf darstellten, dass die Börse am nächsten Tag im Plus schließen würde. Kann man das Paket, mit kleinem Gewinn per Kredit, aber riesigem Gewinn im Paket, am nächsten Tag verkaufen, hat sich die Wette gelohnt. Das geht so lange gut bis irgendwo kontrolliert, ab und zu, verloren wird, jedoch nicht massenhaft. Schließlich kommt es jedoch zu dem Punkt an dem massenhaft Angestellte für Immobilien bezahlen mit Geld, das sie nicht haben (deswegen die Kredite), das sie aber wegen den niedrigeren Löhnen und der zunehmenden Pragmatisierung der Lohnarbeitsverhältnisse auch in der Zukunft, auf die heute täglich mit 130 Milliarden gewettet wird, niemals mehr haben werden.
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass eine nachfrageorientierte (sozialdemokratische) Lohnpolitik die Problematik lösen würde. Nicht die tatsächlich bezahlten Löhne für die zur Verfügungstellung der Arbeitskraft, ob niedrig oder hoch, sondern die abstrakte Lohnarbeit, das heißt das was im Mittel an tatsächlicher Arbeit mit ihrem tatschlichen, gesellschaftlichen Wert in das Produkt hineingesteckt wird, ist ausschlaggebend für den Wert des Produkts und damit auch die zu erzielenden Gewinnmargen (durch Ausbeutung von Arbeitskraft). Und diese schrumpfen, angesichts der extremen Steigerung der Produktivität, das heißt dem Anteil an Maschinenarbeit zur Gesamtarbeit per Ware. Da kaum mehr menschliche Arbeit zur Herstellung von Produkten gebraucht wird, können selbst unter Nachfragegesichtspunkten erhöhte Löhne kaum mehr gerechtfertigt und auch nicht mehr erwirtschaftet werden. Der fundamentale kapitalistische Widerspruch der sinkenden Gewinne bei größerem Wettbewerb und der Sättigung der Welt mit Produkten die überhaupt noch gewinnbringend verkauft werden können, ist nur durch die Zerstörung der Werte, oder in totalitären, abgeschotteten, binnenmarktorientierten Regimen, zu erreichen, die ihren Markt mit Gewalt auf immer dem gleichen Niveau, und gegen jede technologische Entwicklung und Ansprüche anderer Märkte, abgrenzen. Genau aufgrund dieser hypothetischen, aber wie uns die Geschichte des Ostblocks lehrt, sehr wahrscheinlich nicht nachhaltigen Möglichkeit zum Ausstieg aus diesem Widerspruch, träumen viele esoterisch orientierten Linken, mit Neokonservativen und Faschisten den Traum vom kontrollierten, alternativen Tauschsystem und Enklaven Handel. Eher wahrscheinlich ist allerdings, dass sich bei dieser Art des mehr oder weniger kontrollierten Nachfrage und Mehrwertsystems, die kapitalistischen Wehen, mit denen das moderne Leben identisch ist, ins Unendliche verlängern. Schon der Aufschwung nach der letzten Rezession 2000-2001 war einer der schwächsten und kürzesten der Geschichte, und es wurde dabei so gut wie überhaupt kein Arbeitsplatz geschaffen.
Nun ist diese Analyse nicht neu. Im Gegenteil, die Diskussion um die Relevanz der Krise der Lohnarbeit für die Kämpfe und Krisen der Arbeiterbewegung, wird seit den 70er Jahren, mit mal mehr mal weniger intensiver Beteiligung der Sozialdemokratie geführt. Warum aber fehlt bis heute eine schlüssige Antwort von Seiten der SPD und der Gewerkschaften zu diesem Thema, das heißt zum Thema ihrer eigenen Krise, die durch die Krise der Lohnarbeit und des Kapitalismus heraufbeschworen wurde. Die Verdrängungsleistung gegenüber den Konsequenzen des Verschwindens der massenhaften Lohnarbeit ist tatsächlich enorm, und sie ist nur aus dem historischen Selbstbild und dem Gründungszusammenhang der Arbeiterbewegung zu erklären, welches mit der Entstehung des Kapitalismus dialektisch verbunden ist. Da eine Kritik der gesellschaftlichen und ökonomischen Rolle der Lohnarbeit zwar zunächst eine Kritik am Kapitalismus ist, aber eben auch an die Wurzeln einer Bewegung geht, deren Entstehung eng mit der massenhaften Entstehung von Lohnarbeit verbunden ist, kann nicht sein was nicht sein darf! Ähnlich wie beim Thema Klimawandel, der in den 70er Jahren, lange vor der grünen Bewegung, zuerst von den Rückversicherungen ernst genommen wurde, scheint sich angesichts der Monstrosität der bevorstehenden Ereignisse, und angesichts des permanenten Ausnahmezustands, der eine Politik der ”harten Fakten” und ökonomischen Notwendigkeiten in Gang hält, und der Arbeiterbewegung wichtige Kraftreserven entzieht, bei dieser ein Schock zustand auszubreiten, auf deren Rückseite wahlweise mit ”harten, notwendigen Schritten” (SPD), dem spirituellem Rückzug ins Private und in die Geborgenheit der Mutter Natur (Grüne), oder ressentimentgeladener Kleiner-Mann Rhetorik (Linkspartei) gedroht wird.
Gleichzeitig wird weiterhin fleißig von möglicher Vollbeschäftigung gefaselt, falls nur die richtigen, harten, nachhaltigen, oder revolutionären Maßnahmen ergriffen würden, deren Heilsbringer schließlich mit schöner Regelmäßigkeit und im Abstand von immer kürzerer Zeit, begraben werden. Die Dienstleistungsgesellschaft der 80er Jahre mit dem Bankautomaten, die Konsumgesellschaft der 90er mit der Verteuerung der Ressourcen und dem Niedergang der Nachfrage und der Kaufkraft, und die Vision der Versorgungsgesellschaft der 00er Jahre wird spätestens mit dem langfristigen Desinteresse des Kapitalismus an einem Wirtschaftszweig bei dem die Lohnarbeit nur schlecht rationalisierbar, und damit das Erzielen von Mehrwert mindestens kompliziert ist, ad acta gelegt werden. Seither ist nachhaltig kein einziger Arbeitsplatz geschaffen worden, und außer in der schönen Welt einer Lohnarbeitsdiktatur, wie zum Beispiel in einem revolutionären Regionalsozialismus, wird dem auch in Zukunft nicht so sein.
Es gilt also einigen bitteren Tatsachen ins Auge zu blicken:
Um den letzten Punkt etwas besser zu verstehen, müssen wir uns noch einmal die elementaren Grenzen und Widersprüche des Kapitalismus, als Resultat seines Wirkens, vor Augen führen. Dazu zählt der bereits mehrfach erwähnte Widerspruch zwischen einer permanenten Verbilligung der Produktion und damit des Wertes der Waren einerseits, die andererseits nur durch eine Erniedrigung der Löhne und damit wiederum eine Erniedrigung der Nachfrage kompensiert werden kann (die wiederum zu fallenden Preisen führen, und so weiter und so fort). Ein Kampf für höhere Löhne (und sei es ein politisch, gewollter Kampf wie im Nachkriegsdeutschland der 60er und 70er Jahre) ist im kapitalistischen System niemals nachhaltig und wird von diesem meist entweder mit einer Rezession, oder einem (Bürger-)Krieg beantwortet, nach denen die Löhne auf ihr abstraktes, mittleres, und durch den kapitalistischen Mehrwertprozess festgelegtes, Niveau zurückfallen. Eine der wichtigsten von Marx postulierten und heute entstehenden Grenze des Kapitalismus, ist eine Reduzierung der ”abstrakten” Arbeit, das heißt der beliebigen Austauschbarkeit des Arbeiters oder des Angestellten. Nur durch solch eine grundsätzliche Ersetzbarkeit, kann Arbeitskraft tatsächlich als Ware vom System gehandelt werden und wird dadurch zu abstrakter (entfremdeter) Arbeit mit einem mittleren, gesamtökonomischen Gebrauchswert. Die Erhöhung der Produktivität (Rationalisierung) geht jedoch einher mit einer starken Zunahme des Anteils des Spezialistentums an der Produktion, das nicht mehr (einfach) ersetzbar ist. Dies ist wiederum gleichbedeutend mit einer sukzessiven Monopolisierung der Arbeitskraft, die neuerdings immer entscheidender zur kapitalistischen Stagnation beiträgt. Außerdem ist nach Marx die Selbsterhaltung (Reproduktion) der Arbeitskraft- und Fähigkeiten eine der Voraussetzung für einen funktionsfähigen Kapitalismus. Ein Rückgang der Geburtenraten, gerade in den Ländern mit Zugang zu den am meisten benötigten Spezialistenausbildungen (die sich immer weniger Menschen leisten können) verschlechtert jedoch die Selbsterhaltungssituation der Arbeitskraft signifikant. Der Zugang zu höherer Bildung in den 60er und 70er Jahren für eine breite Masse der Menschen war eine wichtige Voraussetzung für eine hohe Verfügbarkeit an austauschbarer, abstrakter Arbeit und damit ein wichtiger Beitrag zu den hohen Wachstumsraten dieser Zeit. Ein Rückgang der Ressource abstrakte Spezialistenarbeit durch einen erschwerten Zugang zu der benötigten Bildung legt der kapitalistischen Mehrwertproduktion heute starke Grenzen auf.
Der Zustand in dem sich das abstrakte Spezialistentum nicht mehr beschleunigt reproduziert ist eine Gefahr für den Kapitalismus und ein ernstes Zeichen seines Niedergangs, der wiederum begleitet wird vom Übergang der herrschenden politischen Systeme der kapitalistischen Welt in Expertendemokratien- oder Diktaturen. Die Klasse der Managerangestellten ist damit, nach der Arbeiter- und Angestelltenklasse, wohl die letzte aus der Hochzeit des Kapitalismus hervorgegangene, klassisch austauschbare Lohnarbeitsfunktion und durchaus eine seiner elaboriertesten. Da aber Manageraufgaben, mit der Verringerung der Anzahl der Angestelltenverhältnisse, sowie der Zunahme der Entscheidungen die, genau wie in der Politik, vermehrt durch Expertenvorhersage- und Expertennachbearbeitungssysteme (Modelle) getroffen werden, immer entbehrlicher werden, und teilweise schon heute extreme Reibungsverluste und damit unnötige Kosten produzieren, werden diese schon heute zunehmend wegrationalisiert und durch Spezialisten ersetzt. Diese Entwicklung wird sich durch den neuen Trend zu ”integrated production” verstärken, mit dem heute der inzwischen weithin als ”Holzweg” betrachtete Outsourcingshype in sein Gegenteil verkehrt wird. Wodurch wiederum eine Unmenge an Managementaufgaben (durch Spezifikation, Vertragsaushandlung, Regressansprüche, etc.) entfallen werden, die wiederum nur teilweise durch die wieder ins Haus geholten Experten ersetzt werden. Spezialistentum ist jedoch in Zeiten der Verteuerung des Zugangs zu Bildung, die tatsächlich das in Zukunft benötigte Niveau an Expertise hervorbringen kann, ein sich stetig verteuerndes Gut, das aber vor allem das Prinzip der Ersetzbarkeit der Arbeitskraft unterhöhlt. Somit erlangt der Experte in Zukunft eine innerbetriebliche Macht, die nicht mehr als Teil der von ihm angebotenen Ware Arbeitskraft angesehen werden kann, da er unabhängig von seiner Bezahlung, die Produktions- und Wissensmittel in der Hand hält, das System zu seinen Gunsten zu manipulieren.
Der Boykott des Produktionsprozess durch Experten ist, anders als der Streik der Arbeiter oder die Zerstörung der Produktionsmittel im Arbeitskampf, eine politisch wesentlich effizientere und perfidere Form der gesamtgesellschaftlichen Manipulation und der einer schleichenden Machtergreifung. Im Gegensatz zum (ersetzbaren) Arbeiter, der die (ersetzbare) Maschine steuert, erarbeitet der Experte die Modelle der Expertenvorhersage- und Expertennachbearbeitungssysteme. Ohne die sich hinter diesen verbergende Axiomatik, auf die nur der Experte Zugriff hat, kann eine Entscheidung nicht als richtig oder falsch anerkannt werden, also überhaupt nicht mehr getroffen werden. Im Gegensatz zum Arbeiter, der die Maschine nur an- und abschalten kann, entscheidet der Experte sozusagen sowohl über die Entstehung von Bedürfnissen (das Angebot der neuesten Gadgets und allerlei technischer Spielarten essentieller Bedürfnisse) und damit über die Auswahl der Produkte, als auch über die Art und Weise der Produktionsdurchführung.
Eine abstrakte (modellhafte) Vorstellung der Welt, die Welt der Experten, kann, nach Marx, eine materielle Kraft im doppelten Sinne werden: Modelle materialisieren sich einerseits in den Produkten, andererseits in Form des Produktionsprozesses. Das heißt, dass die Produktion eines bestimmten Wissens, eine bestimmte Vorstellung von der Welt voraussetzt und zwar genau dadurch, dass Wissen ein soziales Produkt darstellt. Jeder Produktionsmodus basiert auf einer bestimmten Art des Expertenwissens, je nach seinen physikalischen und sozialen Bedingungen. Der Kapitalismus versucht nun dieses (Experten-)Wissen (oder ganz allgemein die Wissenschaft) in den Produktionsprozess einzubinden und diesem unterzuordnen und zu harmonisieren. Erfindungen werden zum Geschäftsmodell und die rational, nachvollziehbaren also rationalisierbaren Naturwissenschaften zum alles bestimmenden, alleinigen Prinzip der Produktion9. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass die kapitalistische Klasse denjenigen Experten ausgeliefert ist, die es schaffen ihr Wissen über das Produktionsmodell weitgehend zu monopolisieren. Konsequenterweise versucht der Kapitalismus heute die Austauschbarkeit der Spezialistenarbeit aufrecht zu erhalten. Einerseits durch intensive, betriebsinterne Dokumentationsarbeit verbunden mit den entsprechenden, signifikanten Mehrkosten, andererseits, und immer häufiger, durch Offenlegung der Quellen (open-source) und die Wikipediaisierung der Welt. Letztere wurde noch vor Jahren von der kapitalistischen Klasse als feindlicher und illegaler Angriff auf das von den Unternehmen entwickelte und bezahlte Wissen vehement bekämpft. Heute wird wegen dem zunehmenden Mangel an Spezialisten für die Betreuung der explodierenden Expertensysteme versucht die größt mögliche Verbreitung und Sicherung dieses Expertenwissens im Netz, und damit seine Vergesellschaftlichung, zu erzielen, um der schleichenden Monopolisierung des Wissens über die Abläufe des Produktionsprozess und die Schaffung von Bedürfnissen (Ideen) durch immer weniger Experten, die dem Kapitalismus schwerwiegende Wachstumsgrenzen auferlegt, entgegenzuwirken10.
Der Spezialist wird damit, mithin noch unwissentlich und gänzlich unerwartet, zu einem der größten Widersacher der kapitalistischen Expansion. Da er oder sie also sozusagen die Syntax für den gesamten Produktionsablauf bis hin zur Schaffung der Bedürfnisse der Konsumenten übersieht, muss er oder sie, um ihre machtpolitischen Ziele zu erreichen, also gar nicht die gesamtgesellschaftliche Produktion stoppen, sondern beeinflusst lediglich ihre Voraussetzungen und ihre ”Wirklichkeiten”, auf eine Art, die es ihr ermöglicht ihre wirtschaftliche und politische Macht zu vermehren. Den ”notwendigen harten Maßnahmen” in der Politik, sowie den sogenannten ”harten Fakten” in der Produktion der öffentlichen Meinung, entsprechen die ”notwendigen harten Entscheidungen” im Produktionsprozess, die im Betrieb zunehmend von, von Experten(-systemen) fremdgesteuerten, Managern getroffen werden.
Die Wiedereingliederung des Expertenwissens in den Produktionsprozess (integrated production) und die sukzessive Ersetzung der klassischen politischen Unternehmerentscheidungen (Mittelstands Visionäre, Managerköpfe, Deutschland AG..) durch Expertensystementscheidungen belässt die eigentliche, weitgehend automatisierte Produktion weiterhin außerhalb des Betriebs (und des Landes). Sie wird weiter marginalisiert werden da ihre Profitraten schwinden. Die Produktion von Waren ist immer weniger Teil des gesamtgesellschaftlichen Prozesses der Wertschöpfung, da sie immer mehr entweder von Maschinen, oder maschinengleichen Arbeitern ohne Status in den politisch marginalisierten Gegenden der warenstromglobalisierten Welt durchgeführt wird. Damit nährt sich der Kapitalismus dem von Marx postulierten Zustand an in dem Maschinen ausschließlich von Maschinen produziert werden.
Der abstrakte Warenwert, Grundlage aller Werte im Kapitalismus, kommt zunehmend ausschließlich aus der Entwicklung einer Idee für ein Produkt und sein Absatzpotential, und der in diese Entwicklung investierten Lohnarbeit, die wiederum ausschließlich von Experten ausgeführt wird. Auf diese Idee und ihr zukünftiges Potential kann dann gewettet werden und, wie im Finanzkapitalismus, durch die immer noch erwarteten zukünftigen Gewinne, kann kurz- und mittelfristig Mehrwert erzeugt werden, der dann in immer kürzeren Etappen, nach dem Platzen der Blase, von der Gesamtwirtschaft zurückbezahlt werden muss, da sich die erwarteten Gewinne aus der Produktion langfristig und im erhofften Maße nur selten noch realisieren lassen.
Sobald die Realisierung des Warenwerts fast ausschließlich auf den Lohnkosten der Entwicklung und nicht mehr denen des Produktionsprozesses beruht, schwindet die gesamtpolitische Macht des Arbeiters in der Industrie, auf dessen spezifische Rolle im gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess die Arbeiterbewegung aufgebaut wurde. In diesem Sinne ist das Verschwinden der Lohnarbeit nicht nur empirisch zu sehen, sondern auch gesellschaftspolitisch, als ihr schwindender, politischer Einfluss, selbst dort wo die Arbeiterklasse noch existiert, da sich ihre Wertigkeit für die Mehrwertproduktion und damit die Akkumulation enorm verbilligt hat. Mit dem klassischen Arbeiter- und Angestelltenverhältnis ist deswegen kein Staat mehr zu machen, und ihr Status gleicht mittlerweile dem des von Marx so verabscheuten Lumpenproletariats, das ihm so zuwider war, gerade weil es durch seine Nichtteilnahme am Produktionsprozess und seine fehlenden Organisationsmöglichkeiten weder politischen Einfluss ausüben, noch eine Revolution anzetteln konnte.
Der lange Abschied des Kapitalismus ist unaufhaltsam und liegt in seinen eigenen Widersprüchen begründet, und es ist unwahrscheinlich, dass irgendeine Revolution diesen stoppen könnte, oder uns vorzeitig in ein besseres Morgen transformiert. Wenn dem so wäre würde es sich heute schon lohnen in diese Zukunft finanziell zu investieren. Abgesehen von der bereits erwähnten Tatsache, dass Revolutionen per Definition niemals das erreichen was die Revolutionäre am Vorabend wollten, sind echte Revolutionen mit gutem Ausgang für die Mehrheit der Bevölkerung, nach allem was wir aus der Geschichte wissen, nur in Zeiten des Aufschwungs und der politischen Liberalisierung zu haben. Beides steht auf absehbare Zeit nicht auf dem ökonomischen und politischen Speiseplan. Doch hiervon gleich mehr. Erfolgversprechender und nachhaltiger erscheint es dann doch den langsamen Niedergang des Kapitalismus zu beschleunigen, indem man seine Widersprüche verstärkt. Aber auch diese Strategie kommt um die Zuschreibung menschenverachtend nicht herum.
Was ist also zu tun? Zunächst gilt es, die Stagnation und den langen Abschied des Kapitalismus vor Augen, sich über einige tragenden, gesellschaftspolitischen Eckpfeiler unserer heutigen Staats- und Rechtsordnung, und ihren Bezug zur kapitalistischen Ordnung im Klaren zu werden, und bevor wir mit dem Enthusiasmus des Gefühls Recht behalten zu haben, an die Verteilung der ungeliebten Erbschaft gehen. Eine wichtige Voraussetzung für eine florierende, kapitalistische Ordnung ist eine effektive und langfristig stabile, staatliche Rechtsordnung, die einerseits den Welthandel zu öffnen weiß, und andererseits individuelles Eigentum schützt und langfristig garantiert. Willkür, Despotismus, Korruption, irrationales, unvorhersehbares, politisches Handeln, behindern die globale Mehrwertproduktion und werden von der kapitalistischen Ordnung, wo nötig, sehr effektiv bekämpft. Staatliche Rechtssicherheitsgarantien spielen hierbei eine enorm wichtige Rolle. Dies sind jedoch auch Garantien für eine Rechtssicherheit, die aus- und abgrenzt, und die eine effiziente Kontrolle der Produktionskräfte ermöglicht, die genaue Überwachung ihrer Mobilität, und ihrer individuellen Bedürfnisentfaltung, bei der gleichzeitigen, völligen Liberalisierung der Handelsbarrieren. Aber selbst der Finanzkapitalismus braucht staatlich garantierte Regeln um funktionieren zu können. Eine lang anhaltende Stagnation und damit Destabilisierung der kapitalistischen Ordnung, wird notwendiger Weise in eine Destabilisierung unserer heutigen Rechtsordnung münden. Bei allem Enthusiasmus für den bevorstehenden Untergang des Kapitalismus ist es wichtig sich dieses Problem vor Augen zu führen. Eine Vorhersage über eine mögliche, zukünftige Rechtsordnung zu machen, ist reine Spekulation. Jenseits abstrakter Werteordnungstheorien, die oftmals schon hunderte Jahre vor ihrer Anwendung erdacht wurden, kennt die Geschichte ausschließlich Beispiele der praktischen Etablierung neuer, stabiler Rechtsordnungen nach langen, und meist extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen, sozusagen als vorläufiges Zwischenergebnis des anhaltenden ”weltweiten Bürgerkriegs” (Hobbes).
Es ist außerdem sehr problematisch sich bei der Hoffnung auf ein besseres Morgen, das heißt auf eine gerechtere, freiere, und solidarischere Gesellschaft, allein auf die Demokratie als Grundwertesystem zu stützen. Es ist einer der klassischen, analytischen Fehler einiger linker Bewegungen (nicht zwingend der Arbeiterbewegung) zu glauben, die Demokratie sei eine Staatsform. Sie ist es nicht! Die Demokratie ist hingegen ein politisches Prinzip, das unterschiedliche Ordnungen stützen kann. Von den basisdemokratisch organisierten Stadtstaaten, über die parlamentarischen Demokratien, bis zum demokratisch gewählten und gestützten Nationalsozialismus und dessen kapitalistischer Ordnung, ist sie der Diener vieler Herren. Dies bedeutet nicht, dass man sie wie Platon oder Teile der kommunistischen Arbeiterbewegungen verachten sollte, aber von Beiden sollten wir lernen, dass wenn wir Demokratie sagen, dass wir dann auch dazu sagen müssen welcher Ordnung diese dienen soll.
Der Weg in eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft ist angesichts der Auseinandersetzungen, die das Ende des Kapitalismus mit sich bringen wird, und angesichts der heute schon virulenten Entwicklungen unserer rechtspolitischen Ordnungen in Richtung einer Expertendiktatur, weiter und steiniger denn je. Vor allem wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass historisch gesehen, jeder nicht-faschistischen Revolution eine nachhaltige Phase der politischen Emanzipation, eine Phase des ökonomischen Aufschwungs, sowie eine nachhaltige Dekonstruktion bestehender, repressiver Ordnungen vorrausging. Diese Voraussetzungen waren sowohl im Vorfeld der französischen, wie im Vorfeld der 68er Revolution und 89er Revolutionen gegeben, die alle, im Sinne von FGS, wichtiges erreicht haben. In allen anderen Fällen waren ”Revolutionen” das Ergebnis einer Prekarisierung der Verhältnisse und entsprechend kam dabei mindestens ein Aspekt von FGS, meistens alle, unter die Räder.
Auch wenn die Aussichten trübe sind: für die Sozialdemokratie, als einzig potentiell übriggebliebene Kraft, die zumindest in ihrer Geschichte, die Auseinandersetzung um eine Dogmatik von FGS gepflegt hat, die dem Politischen und dem Kompromiss lange Zeit einen höheren, sakraleren Stellenwert eingeräumt hat als dem Notwendigen, und die von allen drei übrig gebliebenen, parlamentarischen Teilen der Linken die geringste Affinität zu resentimentgeladener Politik hat, muss gelten, dass wenn sie in Zukunft eine wichtige Rolle für die Verwirklichung von FGS spielen will, dass dann die Beteiligung an Projekten der politischen Emanzipation, sowie der Dekonstruktion des Repressionsapparat, Vorrang haben gegenüber der Beteiligung an jedweder Form der Revolutionsrhetorik, die in Zeiten der ökonomischen Krise und immer vehementerer, politischer Repression, welche nach einem ”Jahrzehnt der Angst” immer häufiger auch demokratische Legitimierung erfährt, notwendigerweise in den Faschismus führt.
1Wichtig scheint mir hierbei, dass die Arbeiterbewegung niemals in ihrer Geschichte ernsthaft für das Verschwinden der Arbeit, das heißt ihr eigenes Verschwinden gekämpft hat. Noch in der traditionellen, marxistischen Vision der kommunistischen Gesellschaft war die arbeitslose Menschheit gegenüber der gerechten, kommunistischen Arbeitergesellschaft ein jenseitiges Paradies.
2Als Dogmatikbedürfnis bezeichne ich das Bedürfnis nach einer permanenten Auseinandersetzung über eine politische Dogmatik als Grundlage des politischen Handelns. Das Dogmatikbedürfnis zielt gerade nicht darauf eine bestimmte Dogmatik zu fixieren. Denn genau wie das Begehren niemals einen Zustand fixieren will in dem es als Begehren verschwinden würde, so bedeutet das Fixieren einer Dogmatik automatisch den Verlust eins Bedürfnisses nach Dogmatik
3Alain Badiou
4Hier darf daran erinnert werden, dass Ende des 18ten Jahrhunderts schon einmal das Bedürfnis nach Jetztverwirklichung der Revolution gegenüber dem permanenten, aber illusionslosen Kampf der internationalen Arbeiterbewegung ausgelebt wurde und in die Entstehung des Faschismus mündete
5Im Folgenden halte ich mich eng an die kongeniale Zusammenfassung der Ereignisse der Editoren des n+1 Mag, issue 8, in ”The Intellectual Situation”,”On Your Marx”, New York, 2009.
6Die imperialistische Expansion der Wirtschaftsordnung und die Garantien für freien Wettbewerb liefern allerdings kurzfristige Möglichkeiten der Akkumulation in Zeiten der Expansion, das heißt so lange, aber auch nur so lange, wie die Dynamik der Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsprinzipien neue Märkte erschließt.
7Symbolisiert 1973 durch die Aufgabe des Bretton-Woods Abkommen über feste internationaler Wechselkurse gebunden an den Kurs des Dollars bestehend seit 1944.
8Economist, August 20-26, 2005, p.54-56
9David Harvey, Limits to Capital, p. 101f, Verso, 2006.
10Der Notwendigkeit die kapitalistische Produktion durch stattliche Garantien einer nachhaltigen Rechtsordnung abzusichern, gesellt sich damit ein zweites, vergesellschaftliches, aber dem Kapitalismus selbst äußeres Gut hinzu: die Vergesellschaftlichung von naturwissenschaftlichem, also für die Produktion notwendigem, Expertenwissen.