WikiLeaks vs Stuttgart 21
Der bürgerliche Kampf gegen die parlamentarische Demokratie

Rüdiger Lang

6. Dezember 2010
Wir leben in einem kapitalistischen System, das von einer parlamentarischen Demokratie verwaltet wird. Beide, Kapitalismus und parlamentarische Demokratie, befinden sich in einer nachhaltigen Krise. Es ist schwierig auszumachen, ob die Krise des einen die Krise des anderen zur Folge hat, oder nur begünstigt. Es gibt hier aber ganz offensichtlich einen wechselseitigen, dialektischen Zusammenhang. Über die Krise des Kapitalismus aus einer Innenperspektive betrachtet, habe ich in ”Vom Ende des Kapitalismus zur Expertendiktatur” (ifkt.org) berichtet. Hier soll es nun um zwei der neueren und exemplarischen Symptome für die Krise der parlamentarischen Demokratie gehen: Stuttgart 21 und WikiLeaks.

Der Aufstand des Bürgertums gegen das Durchgangsbahnhofprojekt wurde schon vielfach als symptomatisch für die Krise der parlamentarischen Demokratie bezeichnet. Jedoch immer mit dem Hinweis auf das, was an ihr zu reparieren oder zu reformieren wäre: die politische Klasse oder/und das parlamentarische Repräsentationssystem. Man hat schlichtweg die ”Schnauze voll” von den Politikern, die uns belügen und betrügen, und die ganz allgemein machen was sie wollen. Ergo, es muss mehr direkte Demokratie her! Das Volk will endlich die Dinge selbst in die Hand nehmen. Bemerkenswert ist dabei nur, dass dieses Volk in den 25 Jahren, die Stuttgart 21 nun schon auf dem Tisch liegt, genau dies nie getan hat. Nach unzähligen parlamentarischen Anhörungen, öffentlichen Gerichtsverfahren, zahllosen Expertenstudien, Infoausstellungen1, Wagenburgen auf Teilen der ausrangierten Abstellgleise des Bahnhofs und Minidemonstrationsumzügen durch den Schlosspark, sowie nach der parlamentarischen Absegnung des Projekts durch alle Parteien inklusive den Grünen, schwoll dem Bürger in genau jenem Moment der Hals, als die Bagger die Schaufel an ein bekannteres Detail seiner Alltagswirklichkeit legten. In der Tat ein besonders gutes Beispiel für die Ignoranz des heutigen Bürgertums gegenüber innerparlamentarischen und außerparlamentarischen Beteiligungsmechanismen der Repräsentationsdemokratie. Aber auch gegenüber vielen subversiven oder gar illegalen Widerstandsformen, die es in all den Jahren ja auch gab (siehe Wagenburgler und unangemeldete Schlossparkdemos), die aber nie einen größeren Teil des Stuttgarter Bürgertums, geschweige denn des Baden-württembergischen, jemals hinterm Ofen vor gelockt hatten.

Das Phänomen der globalen Aufmerksamkeitsstrategie der Internetplattform WikiLeaks ist ebenfalls ein proto-typischer Ausdruck des Frusts und der Hybris eines post-pubertären Bürgertums, das die Macht vor der ”korrupten” poltischen Klasse retten und sich damit am liebsten selber aneignen will. Das Problem ist nur, dass diese politische Klasse heute schon alle Eigenschaften auf sich vereinigt, die schon immer auch auf das (Klein-)Bürgertum zugetroffen haben: Eigensinn, Verlust- und Abstiegsängste, ein schlechtes Selbstbewusstsein und daraus resultierend diese eigentümliche Art mit hochrotem Kopf Anordnungen zu verteilen, die Frau am Schalter zu drangsalieren, den Nachbarn zu verklagen, aber vor allem den Hass auf die Politik und die Politiker zu kultivieren, und mit ihm den Unwillen sich demokratischen oder parlamentarischen, also zivilen Spielregeln unterzuordnen, oder sie auch nur zu tolerieren. In dem Maße in dem auch die politische Klasse ihren Bürgern ähnlich geworden ist (gerade was ihren Grad an Korruption und die Liebe zu Steuerhinterziehungen und schwarzen Kassen betrifft), muss man konstatieren, dass die Demokratien der Nachkriegszeit, zumindest in der westlichen Welt, enorm gut funktioniert haben. So hat sich das Volk schließlich eine politische Klasse gewählt, die genau wie das Volk selbst, die Politik hasst, und das System Demokratie, zumindest aber den Parlamentarismus und seine komplizierten, zivilisatorischen Regeln, am liebsten abschaffen würde.

WikiLeaks Gründer, Chef und Oberbefehlshaber Julian Assange ist genau dieser proto-typische Kleibürger dessen narzisstisches Geltungsbedürfnis nur noch von dem von Jesus von Nazareth übertroffen wird2. Im Stile eines Blofelds imaginiert und stilisiert sich der WikiLeaks CEO als Alleinretter der wahren, transparenten Demokratie und ignoriert in dieser Mission, da er natürlich im Auftrag von Ehrlichkeit und Freiheit (der ehrliche Bürger oder Calvinist, der heute immer der Dumme ist, hat nichts zu verbergen) unterwegs ist, sämtliche zivilen Standards bis hin zu jenen Gesetzen und Vermittlungsinstanzen, die der Nachkriegskapitalismus, um sich nicht selbst schon viel früher abgeschafft zu haben, mühsam seinem obersten Prinzip der Mehrwertmaximierung abgerungen hat. Mit der Naivität des Schülers, der zusammen mit seinem Sozialkundelehrer zum ersten Mal im halb leeren Plenarsaal einer Abstimmung beiwohnt und sich darüber empört, dass offensichtlich die Hälfte der Abgeordneten die Schulstunde schwänzt, bulldozert sich Assange, von seinem hochgeheimen Kommandositz in den zerklüfteten Weiten Islands aus, durch die mühsam erschaffenen und komplexen, politischen Gebilde der internationalen und nationalen, politischen Diplomatie, nur um sich nach jeder erfolgreichen, medialen Bloßstellung des parlamentarischen Apparats, zusammen mit den ewig Zukurzgekommenen und den immer verarschten Bürgern und ihren Beschwerdeführern Spiegel und Bildzeitung, in Siegerpose im bleichen Licht der blamierten Politik zu sonnen. Seht her, ich, und nur ich, hab es euch doch wieder gesagt, was das alles für Gauner sind! Das Echo wiederhallt noch Tage durch die Talkshows, Talk-Radios, und die im Spießertum der geschwollenen Halsschlagader besonders bewanderte Blogosphäre. Dort wo Historiker zur Aufarbeitung und Veröffentlichung von wenigen Seiten diplomatischer Handlungen und Verhandlungen Jahre brauchen, reichen WikiLeaks Sekunden, um den Medienmarkt mit tausenden Seiten ”hochbrisantem” Material zu überschwemmen, und die globale Welt der mittlerweile völlig bedröhnten und deshalb zu Tode gelangweilten Informationsjunkies noch irgendwie aus ihrer Bräsigkeit zu reißen. Dies alles natürlich in völliger Unkenntnis der Details der komplexen Sachlagen, die da zum Vorschein gezerrt werden, und mit völliger Ignoranz gegenüber den teilweise tödlichen Kollateralschäden und menschlichen Schicksalsschlägen, die solche Enthüllungen zu Folge haben könnten. Im Gegenteil, je größer das Spektakel desto größer das Ego des Assange und mit ihm das beschädigte des Bürgers der westlichen Demokratie. Die Piratenpartei ist tot, es lebe WikiLeaks.

Assange’s Bedürfnis ist klar. Er will die Macht. Ein Machtgefühl das ihm und den empörten Bürgern von Stuttgart 21 im unverständlichen Gewirr und mit den ewigen Kompromissen des parlamentarischen Prozesses abhanden gekommen ist.

So ist die von Jörg Sundermeier in der Jungle World3 so trefflich für das Lebensgefühl der 00er Jahre konstatierte Langeweile in Wirklichkeit getränkt mit einem unbändigen, bürgerlichen Bedürfnis die Schwere, Zähigkeit und Komplexität des Daseins eines politischen Subjekts in einer parlamentarischen Demokratie endlich abzustreifen und wieder zu den Waffen zu greifen, die bis dato noch auf der linken Spur der Autobahn, oder gegenüber den Untergebenen, Ausländern oder Asozialen sublimiert wurden. Das völlige Unverständnis und die Ignoranz gegenüber den zivilisatorischen Regeln des repräsentativ verteilten Machtprinzips und den Details der politischen Partizipation, die mittlerweile folgerichtig auch die politische Klasse selbst infiziert hat, führt heute zu einem scheinbar wahllosen und unberechenbaren Einschlagen auf ein diffuses Verschwörungsgebilde, hinter dem man nur allzu gut die Umrisse, der unter den Schlägen ächzenden, demokratischen Prinzipien, erkennen kann. Konsequenterweise wird nun überall nach der direkten Demokratie gerufen, die einer großen Mehrheit begeisterter Schweizer noch vor kurzem das lang ersehnte ”Ausschaffungsgesetz” für unliebsame Ausländer und Asylanten beschert hat.

Der genaue Zeitpunkt an dem sich zu diesem oder jenem Thema die Volksseele entäußern wird, ist jedoch, wie bei Stuttgart 21 festzustellen war, ziemlich unberechenbar. Er kann sich an den beliebigsten, unvorhersehbarsten Events festmachen. Zum Beispiel der Moment in dem dieser Baum zu viel gefällt wurde, oder plötzlich jene altbekannte Fassade fällt. Bestimmt hat dieser Moment jedoch nichts mit irgendwelchen, nachhaltigen, politischen Überzeugungen oder gar Ideologien zu tun, wie dies noch bei den versprengten Gruppen politisch Subversiver der Fall war, die sich über Jahre in den Bauwagen der abgelegeneren Gleisanlagen des Stuttgarter Bahnhofs mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Nein, es genügt ein im Fernsehen richtig ins Szene gesetzter Abrissbagger, eine bedrohte Käferart, und schon flippt der entnervte Bürger aus und läuft zu den Klängen von Konstantin Weckers Tastenorgel amok. Vergesst jene Formen des Klassenkampfs des sterbenden Kapitalismus, wie sie nur noch in Frankreich, ab und an, auf der Straße im Generalstreik ausgetragen werden. Was in Stuttgart auf nationaler und mit WikiLeaks auf internationaler Ebene ausgelebt wird, ist nichts als der dumpfe Hass eines proletenhaften Bürgertums auf eine parlamentarische Demokratie, die zusammen mit dem Kapitalismus, schon schwer angeschlagen im Sterben liegt, und dafür umso mehr gehasst wird. Alte und Schwache taugen eben nicht als Vorbilder für beschädigte, narzisstische Seelen. Da die Aussicht auf eine sozialistische Revolution und den politisch motivierten Klassenkampf mittlerweile in weite Ferne gerückt ist, wird der Vergleich mit den 00er Jahren des letzten Jahrhunderts, zumindest in Deutschland, immer augenfälliger. Die Katastrophen des 1. und 2. Weltkriegs, sowie der faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts werden sich nicht wiederholen. Nach Lage der Dinge wird es aber wohl kaum viel besser werden.

1Eine stark frequentierte Ausstellung, mit detaillierten Plänen und Modellen, gab es über Jahre im Turm des Bahnhofs. Damals ein beliebtes Ausflugsziel mit Cafe und Blick über die Stadt.

2Eine sehr gute Persönlichkeitsstudie von Julien Assange ist im New Yorker Anfang des Jahres erschienen http : ∕∕www.newyorker.com∕reporting∕20100607100607fa_fact_khatchadourian.

3Jungle World, Nr. 48, ”Wie ein Schluck Bananensaft, der aus einem umgefallenen Glas läuft”, http : ∕∕jungle - world.com∕artikel∕20104842216.html.